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Prosa
Goce Smilevski
"Sigmund Freuds Schwester"
"Sigmund Freuds Schwester"
Ausschnitt aus dem Roman. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verlags Matthes & Seitz Berlin, wo der Roman in der Übersetzung von Benjamin Langer im Frühjahr 2013 erscheinen wird.
Mutter fing wieder an, mir die Worte zu sagen, die sich in meine frühesten Erinnerungen eingebrannt hatten und die sie lange Zeit vergessen hatte: „Hätte ich dich doch nie geboren.“ Früher hatte sie das gesagt, wenn ich krank und am Rande der Bewusstlosigkeit war. Jetzt sagte sie es voller Verachtung und Spott, wenn ich, wie alle Kinder, irgendeine naive Bemerkung gemacht hatte, sie sagte es auch, wenn ich einen Fehler gemacht hatte, den man von einem Mädchen in meinem Alter erwarten konnte, und irgendwann sagte sie dieses „Hätte ich dich doch nie geboren“ andauernd zu mir, statt „Guten Morgen“ und „Gute Nacht“, statt „Wie geht es dir?“ und „Brauchst du etwas?“. Ich hörte es sogar, wenn sie es gar nicht sagte, ich drehte ich mich in dem von diesem „Hätte ich dich doch nie geboren“ gezeichneten Kreis, ich wollte mich aus diesem Kreis befreien, und morgens wünschte ich mir, in die Küche zu gehen wie einst, als meine Mutter mir eine heiße Kartoffel gab und ich ihr aus einer Zimmerecke heraus bei der Arbeit zuschaute, und es gab viele solcher Morgen, an denen ich hoffte, wieder so in die Küche gehen zu können und sie dann zu fragen, wie ich mich von meiner Schuld loskaufen könnte; vielleicht hoffte etwas in mir, dass meine Mutter mir mit ihrem Blick von einst entgegentreten würde und wir uns wieder so nahe sein könnten wie früher; ich ging in die Küche, doch jetzt erstarrte ich vor der Kälte ihres Blicks, der Grobheit ihrer Worte, der Art, wie sie meinem Körper auswich, wenn sie sich durch den Raum bewegte, und so blieb mir die Frage im Hals stecken, damals und auch später; ich wollte die Frage ausspeien, wollte sie erbrechen, wie man verdorbene Speisen erbricht, doch sie blieb dort, wie verfaultes Essen, klebte an mir fest, weigerte sich, mich zu verlassen, und ich trug sie überall mit mir hin, als Mal einer furchtbaren Schuld, die ihr Verbrechen nicht kennt. Wenn ich mich abends ins Bett legte und mich an die Wand presste, zitterte mein Körper vor Angst und Kummer; beim Einschlafen rang ich um Luft, um jedes Ein- und Ausatmen. Manchmal weckte mich im Laufe der Nacht der Schlag meiner Hand gegen die Wand – im Traum war ich gestürzt und hatte den Arm nach einer anderen Hand ausgestreckt, im Versuch, sie zu ergreifen und mich vor dem Sturz zu retten. Sogar in meinen Träumen hatte sich das Leben in ein unverdientes Geschenk verwandelt, und die es mir geschenkt hatte, erinnerte mich andauernd daran. Wenn sie mich erniedrigte, schwieg ich und spürte das Hacken in meiner Brust; das Gefühl, verstoßen zu sein, grub seinen Schnabel in meine Brust, wo etwas zitterte und weinte wie ein Neugeborenes, das allein gelassen wurde und dem die ganze Welt verschwunden scheint, weil es seine Mutter nicht vor Augen hat; so weinte etwas in mir – ich aber weinte nicht, nur manchmal verzerrte ein gequälter Ausdruck mein Gesicht, als hinge ein Stein um meinen Hals und als sei ich dazu verdammt, mit ihm durch meine Kindheit und auch noch die Zeit danach zu gehen; diesen Ausdruck bemerkte ich immer, wenn ich mich im Spiegel sah. Ich hasste meine Überempfindlichkeit, ich zitterte und wünschte, ich könnte das Zittern ersticken, ich bemitleidete mich und hasste mein Selbstmitleid. Einmal, als nach einem „Hätte ich dich doch nie geboren“ der Selbsthass die Überempfindlichkeit abtöten wollte, versteckte ich mich unter dem Bett, legte die Hände um den Hals und presste die Daumen über dem Schlüsselbein fest in ihn hinein, bis ich das Bewusstsein verlor.
Manchmal lieh ich mir von meinem Bruder ein Blatt Papier und einen Bleistift. Ich setzte mich in die Ecke neben dem Bett und versuchte, einen Blick zu zeichnen, der in die furchtbare Leere schaut, zwei Augen, die nach innen weinen, doch der Versuch endete bei einem einzigen Punkt – die Bewegung meiner Hand hielt inne, wo sie begonnen hatte. Dann schaute ich lange auf diesen Punkt auf dem Blatt Papier, oder ich stand auf und schaute aus dem Fenster, oder aber ich stach die Spitze des Bleistifts in die Fläche meiner linken Hand.
…
Meine Freundschaft zu Sarah Auerbach begann ein paar Monate, nachdem die Zeichenstunden im Garten des Hauses ihrer Familie aufgehört hatten. Bisher hatte ich sie nur als Gestalt gekannt, die uns durch das Fenster beobachtete, doch dann erzählte ihr Vater meinem Bruder, dass in ihr Haus nun sein Kollege von der Fakultät komme, Doktor Ernst von Birke, ein Amateurmaler, der begonnen habe, seiner Tochter Zeichenunterricht zu geben, und nun verlange, dass noch ein anderes Kind zu den Stunden komme, weil es sich so dynamischer arbeiten ließe.
Sarah war ein Jahr älter als ich und hatte eine drei Jahre ältere Schwester, Bertha. An ihren Beinen trug sie metallene Apparate. „Die muss ich tragen, weil meine Beine nicht stark genug sind, mich zu halten“, erklärte sie mir. Beim Gehen musste ihr jemand helfen. Oft bat sie mich, sie zu stützen, und so gingen wir dicht aneinandergedrängt durch das geräumige Zimmer, dessen Wände mit Seide bespannt waren, und stellten uns vor, wir spazierten in einem Park. Sarah sagte mir, sie könne mithilfe der metallenen Apparate an ihren Beinen auch alleine gehen, doch wenn sie hinfalle, weil sie anämisch sei, könnten ihre Knochen brechen, und deshalb müsse sie beim Gehen immer jemand stützen. Ich wusste nicht, was das war, anämisch, aber ich traute mich nicht zu fragen. Einmal, als wir so aneinandergeschmiegt in ihrem Zimmer auf- und abgingen, sagte ich, wie schön ihre Haut sei. Sie meinte:
„Das ist, weil ich anämisch bin.“
Ich sagte ihr, dass ich nicht wisse, was das sei, anämisch.
„Wenn du anämisch bist, gibt es Momente, in denen du plötzlich nichts mehr um dich herum hören kannst. Du fühlst dich unendlich schwach. Dann kannst du nichts mehr sehen. Und verlierst das Bewusstsein. All das ist wunderlich und schön. Ich weiß nicht, warum. Plötzlich, wenn du ganz schwach bist, weißt du nicht mehr, wer du bist“, sagte sie, schwieg dann und strich eine Haarsträhne beiseite, die ihr übers Gesicht gefallen war. Dann fügte sie hinzu: „Wenn Sterben so ist, dann fürchte ich mich nicht vor dem Tod.“
Doch dann sprachen wir statt über den Tod über das Leben. Sarah versuchte mir zu erklären, was Menstruation ist und wie sie sich am Tag zuvor gefühlt hatte – sie habe furchtbar hohe Temperatur gehabt und gleichzeitig vor Kälte gezittert.
„Das ist der erste Schritt dazu, Mutter zu werden“, sagte sie.
„Wann wirst du Mutter?“
„Das wird viel später kommen, viele Jahre nach diesem ersten Schritt. So hat Mama es mir gesagt.“ Dann legte sie die Hände auf ihren Bauch. „Es muss ein wunderbares Gefühl sein, noch ein Leben hier zu haben.“
„Mir kommt das furchtbar vor“, sagte ich.
„Vielleicht“, sagte sie. „Furchtbar und simpel, wie die Menstruation.“ Sie erhob sich mühsam, streckte unsicher ihr eines Bein aus, als wollte sie losgehen, doch tatsächlich ließ sie es nur knapp über dem Boden schweben und setzte sich dann wieder auf den Stuhl. „Und meine Schritte sind immer zu langsam …“ Sie stand wieder auf und ging durch das Zimmer. Ich lief zu ihr, um sie beim Gehen zu stützen, aber sie schob meine Hand sanft weg. „Mama wollte mir nicht sagen, wie genau man Mutter wird. Sie hat gesagt, das sei der erste Schritt. Und sie hat gesagt, bis ich eine Mutter werde, seien es noch viele Schritte. Aber als ich sie gefragt habe, was für Schritte das sind, wollte sie es mir nicht sagen.“
Ich dachte an Rainer und an meinen Bruder und fragte Sarah:
„Und was ist der erste Schritt dazu, Vater zu werden?“
„Ich weiß nicht“, antwortete sie.
Ein paar Monate später kam auch mein erster Schritt zur Mutterschaft. Von jenem Tag ist mir die Erinnerung an die dicke, rote Flüssigkeit geblieben, an das Gefühl, in der Mitte entzweigeschnitten zu sein, und an die furchtbare Pein, als ich meiner Mutter davon erzählte und sie sagte: „Von jetzt an solltest du deine Pflicht kennen, die grundlegende Pflicht einer jeden Frau: dich für dein Leben erkenntlich zu zeigen, indem du neues Leben gebierst.“
…
Eines Sonntagmorgens sagte Doktor Birke, er habe uns nun alles beigebracht, was er selbst über Zeichnen wisse, und empfahl, uns an der Kunstgewerbeschule einzuschreiben, wo wir unsere Zeichenfertigkeiten vertiefen und mit dem Malen beginnen könnten. Sarah war damals fünfzehn und ich vierzehn Jahre alt; sie versuchte nicht einmal, sich einzuschreiben, und ich bestand die Aufnahmeprüfung nicht. Doch wir beide zeichneten weiter zusammen, bei jedem unserer Treffen. Ich zeichnete auch daheim, heimlich, und manchmal, wenn meine Mutter im Geschäft war, um Vater zu helfen, legte ich meine Zeichnungen in der Küche aus. Einmal kam meine Mutter früher nach Hause und starrte auf die Bilder, die auf dem Tisch, den Stühlen, dem Herd und am Fenster lagen. Sie sah abwechselnd mich und dann wieder die Zeichnungen an, als habe sie mich bei etwas Unanständigem ertappt. Da ich nicht mehr zu den Stunden bei Doktor Birke ging und die Aufnahmeprüfung nicht bestanden hatte, hatte sie geglaubt, ich zeichnete nicht mehr.
„Warum zeichnest du überhaupt?“, fragte sie, und ich sammelte langsam die Zeichnungen ein, eine nach der anderen, als sammelte ich meine eigene Schande ein. „Dein Gekritzel ist sinnlos.“ Ich sah die Zeichnungen an, die mir zwischen den Fingern zerknitterten. „Weißt du, was Sinnlosigkeit ist? Zur Sinnlosigkeit kommt es, wenn du etwas vergeblich tust. Wenn das, was du tust, nicht zu etwas anderem führt. Du lernst gehen, damit du irgendwohin gelangen kannst. Du lernst sprechen, damit du dich mit jemandem verständigen kannst. Du gebierst ein Kind, damit das Leben weitergeht. Aber warum zeichnest du? Eben, es ist sinnlos. Und wenn du etwas Sinnloses wie Zeichnen machst, wird vielleicht auch das für dein Leben sinnlos, was eigentlich Sinn hat. Du wirst nirgendwohin gelangen, obwohl du gehen gelernt hast. Du wirst niemanden haben, um dich mit ihm zu verständigen, obwohl du sprechen gelernt hast. Du wirst das Leben nicht weitergehen lassen, obwohl du gebären könntest.“ Mit ihrer Hand verdeckte sie die Zeichnung, die ihr am nächsten lag. „Lass das Zeichnen sein, wenn du den Sinn deines Lebens bewahren willst.“
Ich ließ das Zeichnen sein. Ich ließ es nicht sein, weil ich geglaubt hätte, mich vor der Sinnlosigkeit des Daseins zu retten, wenn ich aufhörte zu zeichnen. Ich hörte auf zu zeichnen, weil mir jedes Mal, wenn ich den Bleistift in die Hand nehmen wollte, die Worte meiner Mutter einfielen und sich mir die Finger verkrampften. An jenem Nachmittag aber knüllte ich, als sie mit ihren Anschuldigungen fertig war und mich doch weiter vorwurfsvoll ansah, die Zeichnungen zusammen, stopfte sie in den Ofen und zündete das Feuer an.
…
Immer wenn ich mit meinem Bruder in die Bibliothek gehen wollte, wo er Stunden verbrachte, sagte meine Mutter, dass sie und Vater mich im Geschäft bräuchten, und ich ging mit ihr. Aber später lernte ich, was ich zu tun hatte: Sobald meine Mutter mit einem der Kunden ins Gespräch gekommen war, bekniete ich Vater, mich lesen gehen zu lassen, er stimmte zu, und ich lief schnell aus dem Geschäft und ging zur Bibliothek. Mein Bruder las Bücher, die an der Medizinischen Fakultät durchgenommen wurden, und ich versuchte, das eine oder andere philosophische Werk zu verstehen. In den Lesepausen unterhielten wir uns, und wenn mein Bruder schon gelesen hatte, was ich gerade las, half er mir, das nicht Verstandene zu begreifen. Wenn wir gemeinsam nach Hause kamen, fiel meine Mutter sogleich mit Vorwürfen über mich her. Sie hielt mir vor, wie viel sie und Vater ohne meine Hilfe im Geschäft arbeiten müssten, oder erklärte mir, der Platz eines Mädchens sei in der Küche. Aber die Stunden, die ich mit meinem Bruder im Lesesaal verbrachte, während er in seinen und ich in meinen Büchern las, die Stunden, die wir im Gespräch verbrachten, machten mich irgendwie stark, und ihre Worte prallten zunehmend von mir ab, sie drangen nicht in mich ein, hackten nicht in meine Brust, ihr kalter Blick stach nicht mehr in meine Pupillen. Meine Mutter spürte das, und manchmal verlor ihr Blick jetzt die Sicherheit, das Gift, das den Faden zwischen uns durchtränkt hatte, teilten wir nicht mehr in gleichem Maße, sondern es lief nur zu ihr, war nur für sie übermächtig und würgte sie in ihrer Ohnmacht, es würgte sie der Glücksstrahl, der immer häufiger mein Gesicht erwärmte, das Quäntchen Freude, das immer, wenn mein Bruder und ich gemeinsam heimkehrten, meine Stimme färbte.
Wenn wir Lesepausen machten und auf den Hof der Bibliothek gingen, erzählte mir mein Bruder von Dingen, die ich nur schwer begreifen konnte, aber ich hörte ihm trotzdem aufmerksam zu, weil ich wusste, wie wichtig es für ihn war, dass ihm jemand zuhörte. Seine Freunde widmeten sich nur der Medizin, er aber wollte mehr, er wollte die Geheimnisse des menschlichen Wesen aufdecken, die über die Anatomie hinausgingen; Sigmund war überzeugt, dass sich diese Entgeheimnissung durch eine Kreuzung von Verstand und Empfindungen bewerkstelligen ließe, er sagte, dass sowohl das Nachdenken als auch das Empfinden für uns essentiell seien und ein Mensch nur durch die „Zusammenarbeit“ dieser beiden sich selbst erkennen könne. Manchmal nahm er sich eines der Bücher, die er mir empfohlen hatte, noch einmal vor – er liebte Sophokles, Shakespeare, Goethe und Cervantes, von mir verlangte er, Balzac und Flaubert nicht zu lesen, denn sie seien zu unmoralisch, Dostojewski, den er gerade entdeckt hatte, verbat er mir, da es da zu viele finstere Gedanken gebe. Er versuchte, mir dabei zu helfen, Hegel und Schopenhauer zu begreifen, und ich erzählte ihm, was ich von Platon gelesen hatte, dessen Werke mir durch das, was John Stuart Mill über ihn geschrieben hatte, schon indirekt bekannt waren. Zuhause schlug ich manchmal die Bibel auf; am liebsten mochte ich den Teil, in dem sich die Königin von Saba an Salomon wendet: „O, dass du mir gleich einem Bruder wärest, der meiner Mutter Brüste gesogen! Fände ich dich draußen, so wollte ich dich küssen, und niemand dürfte mich höhnen! Ich wollte dich führen, und in meiner Mutter Haus bringen, da du mich lehren solltest; da wollte ich dich tränken mit gewürztem Wein und mit dem Most meiner Granatäpfel.“ Ich schlug die Bibel nur auf, wenn mein Bruder nicht in meiner Nähe war; er hatte nur kurze Abschnitte daraus gelesen und meinte, es wimmele darin von Irrtümern. An diesem Punkt riss der dünne Faden zwischen uns und unseren vergessenen Ahnen: Wir waren die ersten Ungläubigen in der langen Generationenreihe seit Moses Zeiten, die ersten, die am Sabbat arbeiteten, die Schweinefleisch aßen, die nicht in die Synagoge gingen, die auf Begräbnissen und an den Todestagen der Eltern keinen Kaddisch sprachen, die das Hebräische nicht verstanden. Unsere heilige Sprache war das Deutsche (mein Bruder glaubte, das Deutsche sei die einzige Sprache, die das höchste Emporschwingen des menschlichen Geistes vollkommen wiedergeben könne), wir begeisterten uns für den deutschen Geist und taten alles, um daran teilzuhaben, wir lebten in Wien, der Hauptstadt Österreich-Ungarns, das einst „Heiliges Römisches Reich deutscher Nation“ genannt worden war, und mit einer seltsamen Begeisterung, hinter der wir den Abscheu vor unseren eigenen Traditionen verbargen, übernahmen wir die Sitten und Gebräuche der damaligen Wiener Mittelschicht.
Mein Bruder glaubte, Charles Darwin habe den wahren Platz des Menschen gefunden, und zwar im Tierreich; er behauptete, mit Darwin beginne das richtige Verständnis des menschlichen Wesens als eine Schöpfung der Natur, entstanden aus der Verwandlung von einer Tierform in die nächste, und nicht als eine göttliche Schöpfung aus Lehm, der göttlicher Atem eingehaucht worden sei. Er glaubte, dass man das Rätsel des Daseins mit dem Verstand lösen könne. Darwins Theorie über den Ursprung des Menschen sei nur der Anfang. Auf die Entdeckung, wie der Mensch entstanden sei, müsse folgen, was der Mensch sei, was es in ihm gebe, das ihn zu diesem Menschen mache. „Ich möchte das dichte Gewebe von verbindenden Fäden erkennen, das von dem, was man Zufall und Schicksal nennt, um uns alle gesponnen wird“, sagte er. Um jeden Faden dieses Gewebes zu sehen, um jeden Bestandteil aller dieser Fäden zu kennen, die das menschliche Wesen ausmachten, müsse man den ersten Schritt tun und die Illusionen ausmerzen, und die größte aller Illusionen, meinte er, sei die Religion mit ihren Dogmen. Er glaubte, dass nur der Verstand die Illusionen zerstören könne, und seine Vorgänger suchte er unter denen, die dem Verstand mehr als den religiösen Dogmen geglaubt hatten.
Wenn er merkte, dass ich dem, was er mir erzählte, nicht folgen konnte, machte er eine Geste, die wir als Gruß verwendeten, aber auch als Zeichen, dass wir das Gesprächsthema wechseln sollten: Mit der Spitze des Zeigefingers berührte er meine Stirn, dann die Nasenspitze, dann die Lippen, und wir begannen über unsere Tagträume zu sprechen. Wir wollten nach Venedig fahren, nur er und ich, nach Venedig, das in unserer Sehnsucht nach einem gemeinsamen Leben in dieser Stadt so zitterte, wie in unserer Vorstellung der Mond in den venezianischen Kanälen zitterte, nach Venedig mit seiner Architektur wie Spitzengewebe, die wir in Büchern gesehen hatten und die in unserer Vorstellung realer und deutlicher vor uns stand als vor den Augen derer, die dort gewesen waren, nach Venedig – wenn wir es erwähnten, führte ich immer wie in einem Spiel die Handgelenke zueinander, legte sie an den Stellen der pulsierenden Adern zusammen, krümmte leicht die Finger und formte so eine Gondel, und dann ließ ich die Hand-Gondel durch die Luft fahren. Vermittels der Bücher entdeckten wir auch seine Maler, Carpaccio und Bellini, Giorgione und Lotto, Tizian und Veronese, Tintoretto und Tiepolo. Und vermittels der Bücher entdeckten wir auch Maler, die nie in der Stadt waren, in der zu leben mein Bruder und ich uns erträumten. In denen über Breughel und Dürer suchten wir zwischen den Figuren auf den Bildern nach den Narren, dieser seit Jahrhunderten verschwundenen Unterart des Homo Sapiens, wir erkannten sie an ihren seltsamen Kappen, meistens mit Eselsohren oder mit zwei, drei Auswölbungen in der Art von kleinen Hörnern, manchmal mit kleinen Schellen daran; die Narren, die schon zur Zeit der Pharaonen mit dem Erzählen von Torheiten, in denen sie die größten Weisheiten verbargen, die Herrschenden unterhalten haben, die Narren, die sich immer bei Königen, Fürsten und Grafen an den europäischen Höfen befanden, die Narren, die bis ins sechzehnte oder siebzehnte Jahrhundert hinein überall in Europa anzutreffen waren, von Stadt zu Stadt ziehend, von Dorf zu Dorf, und die auf feiertäglichen Festen den einen oder anderen Groschen einnahmen; die Narren, dieser Teil des Menschengeschlechts, der sich – vielleicht weise – vom Verstand losgesagt hat. Vielleicht haben sie bewusst entschieden, sich von den übrigen Menschen verspotten zu lassen, um so selbst die ganze Welt zu verspotten und damit auch den, der die Welt so falsch eingerichtet hat; vielleicht war gerade das Bewusstsein, dass die Welt falsch eingerichtet ist, der Hauptgrund, warum sie sich vom Verstand losgesagt haben.
Manchmal lieh ich mir von meinem Bruder ein Blatt Papier und einen Bleistift. Ich setzte mich in die Ecke neben dem Bett und versuchte, einen Blick zu zeichnen, der in die furchtbare Leere schaut, zwei Augen, die nach innen weinen, doch der Versuch endete bei einem einzigen Punkt – die Bewegung meiner Hand hielt inne, wo sie begonnen hatte. Dann schaute ich lange auf diesen Punkt auf dem Blatt Papier, oder ich stand auf und schaute aus dem Fenster, oder aber ich stach die Spitze des Bleistifts in die Fläche meiner linken Hand.
…
Meine Freundschaft zu Sarah Auerbach begann ein paar Monate, nachdem die Zeichenstunden im Garten des Hauses ihrer Familie aufgehört hatten. Bisher hatte ich sie nur als Gestalt gekannt, die uns durch das Fenster beobachtete, doch dann erzählte ihr Vater meinem Bruder, dass in ihr Haus nun sein Kollege von der Fakultät komme, Doktor Ernst von Birke, ein Amateurmaler, der begonnen habe, seiner Tochter Zeichenunterricht zu geben, und nun verlange, dass noch ein anderes Kind zu den Stunden komme, weil es sich so dynamischer arbeiten ließe.
Sarah war ein Jahr älter als ich und hatte eine drei Jahre ältere Schwester, Bertha. An ihren Beinen trug sie metallene Apparate. „Die muss ich tragen, weil meine Beine nicht stark genug sind, mich zu halten“, erklärte sie mir. Beim Gehen musste ihr jemand helfen. Oft bat sie mich, sie zu stützen, und so gingen wir dicht aneinandergedrängt durch das geräumige Zimmer, dessen Wände mit Seide bespannt waren, und stellten uns vor, wir spazierten in einem Park. Sarah sagte mir, sie könne mithilfe der metallenen Apparate an ihren Beinen auch alleine gehen, doch wenn sie hinfalle, weil sie anämisch sei, könnten ihre Knochen brechen, und deshalb müsse sie beim Gehen immer jemand stützen. Ich wusste nicht, was das war, anämisch, aber ich traute mich nicht zu fragen. Einmal, als wir so aneinandergeschmiegt in ihrem Zimmer auf- und abgingen, sagte ich, wie schön ihre Haut sei. Sie meinte:
„Das ist, weil ich anämisch bin.“
Ich sagte ihr, dass ich nicht wisse, was das sei, anämisch.
„Wenn du anämisch bist, gibt es Momente, in denen du plötzlich nichts mehr um dich herum hören kannst. Du fühlst dich unendlich schwach. Dann kannst du nichts mehr sehen. Und verlierst das Bewusstsein. All das ist wunderlich und schön. Ich weiß nicht, warum. Plötzlich, wenn du ganz schwach bist, weißt du nicht mehr, wer du bist“, sagte sie, schwieg dann und strich eine Haarsträhne beiseite, die ihr übers Gesicht gefallen war. Dann fügte sie hinzu: „Wenn Sterben so ist, dann fürchte ich mich nicht vor dem Tod.“
Doch dann sprachen wir statt über den Tod über das Leben. Sarah versuchte mir zu erklären, was Menstruation ist und wie sie sich am Tag zuvor gefühlt hatte – sie habe furchtbar hohe Temperatur gehabt und gleichzeitig vor Kälte gezittert.
„Das ist der erste Schritt dazu, Mutter zu werden“, sagte sie.
„Wann wirst du Mutter?“
„Das wird viel später kommen, viele Jahre nach diesem ersten Schritt. So hat Mama es mir gesagt.“ Dann legte sie die Hände auf ihren Bauch. „Es muss ein wunderbares Gefühl sein, noch ein Leben hier zu haben.“
„Mir kommt das furchtbar vor“, sagte ich.
„Vielleicht“, sagte sie. „Furchtbar und simpel, wie die Menstruation.“ Sie erhob sich mühsam, streckte unsicher ihr eines Bein aus, als wollte sie losgehen, doch tatsächlich ließ sie es nur knapp über dem Boden schweben und setzte sich dann wieder auf den Stuhl. „Und meine Schritte sind immer zu langsam …“ Sie stand wieder auf und ging durch das Zimmer. Ich lief zu ihr, um sie beim Gehen zu stützen, aber sie schob meine Hand sanft weg. „Mama wollte mir nicht sagen, wie genau man Mutter wird. Sie hat gesagt, das sei der erste Schritt. Und sie hat gesagt, bis ich eine Mutter werde, seien es noch viele Schritte. Aber als ich sie gefragt habe, was für Schritte das sind, wollte sie es mir nicht sagen.“
Ich dachte an Rainer und an meinen Bruder und fragte Sarah:
„Und was ist der erste Schritt dazu, Vater zu werden?“
„Ich weiß nicht“, antwortete sie.
Ein paar Monate später kam auch mein erster Schritt zur Mutterschaft. Von jenem Tag ist mir die Erinnerung an die dicke, rote Flüssigkeit geblieben, an das Gefühl, in der Mitte entzweigeschnitten zu sein, und an die furchtbare Pein, als ich meiner Mutter davon erzählte und sie sagte: „Von jetzt an solltest du deine Pflicht kennen, die grundlegende Pflicht einer jeden Frau: dich für dein Leben erkenntlich zu zeigen, indem du neues Leben gebierst.“
…
Eines Sonntagmorgens sagte Doktor Birke, er habe uns nun alles beigebracht, was er selbst über Zeichnen wisse, und empfahl, uns an der Kunstgewerbeschule einzuschreiben, wo wir unsere Zeichenfertigkeiten vertiefen und mit dem Malen beginnen könnten. Sarah war damals fünfzehn und ich vierzehn Jahre alt; sie versuchte nicht einmal, sich einzuschreiben, und ich bestand die Aufnahmeprüfung nicht. Doch wir beide zeichneten weiter zusammen, bei jedem unserer Treffen. Ich zeichnete auch daheim, heimlich, und manchmal, wenn meine Mutter im Geschäft war, um Vater zu helfen, legte ich meine Zeichnungen in der Küche aus. Einmal kam meine Mutter früher nach Hause und starrte auf die Bilder, die auf dem Tisch, den Stühlen, dem Herd und am Fenster lagen. Sie sah abwechselnd mich und dann wieder die Zeichnungen an, als habe sie mich bei etwas Unanständigem ertappt. Da ich nicht mehr zu den Stunden bei Doktor Birke ging und die Aufnahmeprüfung nicht bestanden hatte, hatte sie geglaubt, ich zeichnete nicht mehr.
„Warum zeichnest du überhaupt?“, fragte sie, und ich sammelte langsam die Zeichnungen ein, eine nach der anderen, als sammelte ich meine eigene Schande ein. „Dein Gekritzel ist sinnlos.“ Ich sah die Zeichnungen an, die mir zwischen den Fingern zerknitterten. „Weißt du, was Sinnlosigkeit ist? Zur Sinnlosigkeit kommt es, wenn du etwas vergeblich tust. Wenn das, was du tust, nicht zu etwas anderem führt. Du lernst gehen, damit du irgendwohin gelangen kannst. Du lernst sprechen, damit du dich mit jemandem verständigen kannst. Du gebierst ein Kind, damit das Leben weitergeht. Aber warum zeichnest du? Eben, es ist sinnlos. Und wenn du etwas Sinnloses wie Zeichnen machst, wird vielleicht auch das für dein Leben sinnlos, was eigentlich Sinn hat. Du wirst nirgendwohin gelangen, obwohl du gehen gelernt hast. Du wirst niemanden haben, um dich mit ihm zu verständigen, obwohl du sprechen gelernt hast. Du wirst das Leben nicht weitergehen lassen, obwohl du gebären könntest.“ Mit ihrer Hand verdeckte sie die Zeichnung, die ihr am nächsten lag. „Lass das Zeichnen sein, wenn du den Sinn deines Lebens bewahren willst.“
Ich ließ das Zeichnen sein. Ich ließ es nicht sein, weil ich geglaubt hätte, mich vor der Sinnlosigkeit des Daseins zu retten, wenn ich aufhörte zu zeichnen. Ich hörte auf zu zeichnen, weil mir jedes Mal, wenn ich den Bleistift in die Hand nehmen wollte, die Worte meiner Mutter einfielen und sich mir die Finger verkrampften. An jenem Nachmittag aber knüllte ich, als sie mit ihren Anschuldigungen fertig war und mich doch weiter vorwurfsvoll ansah, die Zeichnungen zusammen, stopfte sie in den Ofen und zündete das Feuer an.
…
Immer wenn ich mit meinem Bruder in die Bibliothek gehen wollte, wo er Stunden verbrachte, sagte meine Mutter, dass sie und Vater mich im Geschäft bräuchten, und ich ging mit ihr. Aber später lernte ich, was ich zu tun hatte: Sobald meine Mutter mit einem der Kunden ins Gespräch gekommen war, bekniete ich Vater, mich lesen gehen zu lassen, er stimmte zu, und ich lief schnell aus dem Geschäft und ging zur Bibliothek. Mein Bruder las Bücher, die an der Medizinischen Fakultät durchgenommen wurden, und ich versuchte, das eine oder andere philosophische Werk zu verstehen. In den Lesepausen unterhielten wir uns, und wenn mein Bruder schon gelesen hatte, was ich gerade las, half er mir, das nicht Verstandene zu begreifen. Wenn wir gemeinsam nach Hause kamen, fiel meine Mutter sogleich mit Vorwürfen über mich her. Sie hielt mir vor, wie viel sie und Vater ohne meine Hilfe im Geschäft arbeiten müssten, oder erklärte mir, der Platz eines Mädchens sei in der Küche. Aber die Stunden, die ich mit meinem Bruder im Lesesaal verbrachte, während er in seinen und ich in meinen Büchern las, die Stunden, die wir im Gespräch verbrachten, machten mich irgendwie stark, und ihre Worte prallten zunehmend von mir ab, sie drangen nicht in mich ein, hackten nicht in meine Brust, ihr kalter Blick stach nicht mehr in meine Pupillen. Meine Mutter spürte das, und manchmal verlor ihr Blick jetzt die Sicherheit, das Gift, das den Faden zwischen uns durchtränkt hatte, teilten wir nicht mehr in gleichem Maße, sondern es lief nur zu ihr, war nur für sie übermächtig und würgte sie in ihrer Ohnmacht, es würgte sie der Glücksstrahl, der immer häufiger mein Gesicht erwärmte, das Quäntchen Freude, das immer, wenn mein Bruder und ich gemeinsam heimkehrten, meine Stimme färbte.
Wenn wir Lesepausen machten und auf den Hof der Bibliothek gingen, erzählte mir mein Bruder von Dingen, die ich nur schwer begreifen konnte, aber ich hörte ihm trotzdem aufmerksam zu, weil ich wusste, wie wichtig es für ihn war, dass ihm jemand zuhörte. Seine Freunde widmeten sich nur der Medizin, er aber wollte mehr, er wollte die Geheimnisse des menschlichen Wesen aufdecken, die über die Anatomie hinausgingen; Sigmund war überzeugt, dass sich diese Entgeheimnissung durch eine Kreuzung von Verstand und Empfindungen bewerkstelligen ließe, er sagte, dass sowohl das Nachdenken als auch das Empfinden für uns essentiell seien und ein Mensch nur durch die „Zusammenarbeit“ dieser beiden sich selbst erkennen könne. Manchmal nahm er sich eines der Bücher, die er mir empfohlen hatte, noch einmal vor – er liebte Sophokles, Shakespeare, Goethe und Cervantes, von mir verlangte er, Balzac und Flaubert nicht zu lesen, denn sie seien zu unmoralisch, Dostojewski, den er gerade entdeckt hatte, verbat er mir, da es da zu viele finstere Gedanken gebe. Er versuchte, mir dabei zu helfen, Hegel und Schopenhauer zu begreifen, und ich erzählte ihm, was ich von Platon gelesen hatte, dessen Werke mir durch das, was John Stuart Mill über ihn geschrieben hatte, schon indirekt bekannt waren. Zuhause schlug ich manchmal die Bibel auf; am liebsten mochte ich den Teil, in dem sich die Königin von Saba an Salomon wendet: „O, dass du mir gleich einem Bruder wärest, der meiner Mutter Brüste gesogen! Fände ich dich draußen, so wollte ich dich küssen, und niemand dürfte mich höhnen! Ich wollte dich führen, und in meiner Mutter Haus bringen, da du mich lehren solltest; da wollte ich dich tränken mit gewürztem Wein und mit dem Most meiner Granatäpfel.“ Ich schlug die Bibel nur auf, wenn mein Bruder nicht in meiner Nähe war; er hatte nur kurze Abschnitte daraus gelesen und meinte, es wimmele darin von Irrtümern. An diesem Punkt riss der dünne Faden zwischen uns und unseren vergessenen Ahnen: Wir waren die ersten Ungläubigen in der langen Generationenreihe seit Moses Zeiten, die ersten, die am Sabbat arbeiteten, die Schweinefleisch aßen, die nicht in die Synagoge gingen, die auf Begräbnissen und an den Todestagen der Eltern keinen Kaddisch sprachen, die das Hebräische nicht verstanden. Unsere heilige Sprache war das Deutsche (mein Bruder glaubte, das Deutsche sei die einzige Sprache, die das höchste Emporschwingen des menschlichen Geistes vollkommen wiedergeben könne), wir begeisterten uns für den deutschen Geist und taten alles, um daran teilzuhaben, wir lebten in Wien, der Hauptstadt Österreich-Ungarns, das einst „Heiliges Römisches Reich deutscher Nation“ genannt worden war, und mit einer seltsamen Begeisterung, hinter der wir den Abscheu vor unseren eigenen Traditionen verbargen, übernahmen wir die Sitten und Gebräuche der damaligen Wiener Mittelschicht.
Mein Bruder glaubte, Charles Darwin habe den wahren Platz des Menschen gefunden, und zwar im Tierreich; er behauptete, mit Darwin beginne das richtige Verständnis des menschlichen Wesens als eine Schöpfung der Natur, entstanden aus der Verwandlung von einer Tierform in die nächste, und nicht als eine göttliche Schöpfung aus Lehm, der göttlicher Atem eingehaucht worden sei. Er glaubte, dass man das Rätsel des Daseins mit dem Verstand lösen könne. Darwins Theorie über den Ursprung des Menschen sei nur der Anfang. Auf die Entdeckung, wie der Mensch entstanden sei, müsse folgen, was der Mensch sei, was es in ihm gebe, das ihn zu diesem Menschen mache. „Ich möchte das dichte Gewebe von verbindenden Fäden erkennen, das von dem, was man Zufall und Schicksal nennt, um uns alle gesponnen wird“, sagte er. Um jeden Faden dieses Gewebes zu sehen, um jeden Bestandteil aller dieser Fäden zu kennen, die das menschliche Wesen ausmachten, müsse man den ersten Schritt tun und die Illusionen ausmerzen, und die größte aller Illusionen, meinte er, sei die Religion mit ihren Dogmen. Er glaubte, dass nur der Verstand die Illusionen zerstören könne, und seine Vorgänger suchte er unter denen, die dem Verstand mehr als den religiösen Dogmen geglaubt hatten.
Wenn er merkte, dass ich dem, was er mir erzählte, nicht folgen konnte, machte er eine Geste, die wir als Gruß verwendeten, aber auch als Zeichen, dass wir das Gesprächsthema wechseln sollten: Mit der Spitze des Zeigefingers berührte er meine Stirn, dann die Nasenspitze, dann die Lippen, und wir begannen über unsere Tagträume zu sprechen. Wir wollten nach Venedig fahren, nur er und ich, nach Venedig, das in unserer Sehnsucht nach einem gemeinsamen Leben in dieser Stadt so zitterte, wie in unserer Vorstellung der Mond in den venezianischen Kanälen zitterte, nach Venedig mit seiner Architektur wie Spitzengewebe, die wir in Büchern gesehen hatten und die in unserer Vorstellung realer und deutlicher vor uns stand als vor den Augen derer, die dort gewesen waren, nach Venedig – wenn wir es erwähnten, führte ich immer wie in einem Spiel die Handgelenke zueinander, legte sie an den Stellen der pulsierenden Adern zusammen, krümmte leicht die Finger und formte so eine Gondel, und dann ließ ich die Hand-Gondel durch die Luft fahren. Vermittels der Bücher entdeckten wir auch seine Maler, Carpaccio und Bellini, Giorgione und Lotto, Tizian und Veronese, Tintoretto und Tiepolo. Und vermittels der Bücher entdeckten wir auch Maler, die nie in der Stadt waren, in der zu leben mein Bruder und ich uns erträumten. In denen über Breughel und Dürer suchten wir zwischen den Figuren auf den Bildern nach den Narren, dieser seit Jahrhunderten verschwundenen Unterart des Homo Sapiens, wir erkannten sie an ihren seltsamen Kappen, meistens mit Eselsohren oder mit zwei, drei Auswölbungen in der Art von kleinen Hörnern, manchmal mit kleinen Schellen daran; die Narren, die schon zur Zeit der Pharaonen mit dem Erzählen von Torheiten, in denen sie die größten Weisheiten verbargen, die Herrschenden unterhalten haben, die Narren, die sich immer bei Königen, Fürsten und Grafen an den europäischen Höfen befanden, die Narren, die bis ins sechzehnte oder siebzehnte Jahrhundert hinein überall in Europa anzutreffen waren, von Stadt zu Stadt ziehend, von Dorf zu Dorf, und die auf feiertäglichen Festen den einen oder anderen Groschen einnahmen; die Narren, dieser Teil des Menschengeschlechts, der sich – vielleicht weise – vom Verstand losgesagt hat. Vielleicht haben sie bewusst entschieden, sich von den übrigen Menschen verspotten zu lassen, um so selbst die ganze Welt zu verspotten und damit auch den, der die Welt so falsch eingerichtet hat; vielleicht war gerade das Bewusstsein, dass die Welt falsch eingerichtet ist, der Hauptgrund, warum sie sich vom Verstand losgesagt haben.