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Prosa
Goce Smilevski "Gespräch mit Spinoza" (Roman) - Auszug
Aus dem Makedonischen übersetzt von Will Firth
Aus dem Makedonischen übersetzt von Will Firth
Das Leben oder das, was man Leben nennt, und was der Anfang des Sterbens ist, begann für mich an einem Punkt. Davor habe ich auch existiert, aber ich lebte nicht, denn das Leben beginnt mit dem ersten Zeichen des Todes, und dieses Zeichen war für mich eben dieser Punkt. Davor, vor dem Zeichen des Todes, waren Gerüche und Geschmäcker da, Geräusche und Berührungen, auch Formen und Farben, doch sie waren nicht miteinander verbunden, sie wanden und schlängelten sich so dahin, in einem Kreis, der endlose Dauer ankündigte – aber keinen Abschnitt mit Anfang und Ende.
Bevor dieser Abschnitt begann, und während ich noch im Kreis existierte, passierten Dinge, die andere bezeugen können, an die ich mich aber nicht erinnere. Auf diese Welt kam ich am 24. November 1632; acht Tage nach der Geburt gab man mir den Namen Bento, später nannte man mich Baruch und Benedictus, aber alle drei Namen haben die gleiche Bedeutung – gesegnet; obwohl zu meinem Leben vielleicht besser mein Nachname passt, der sich vom portugiesischen Wort espinosa ableitet: Dorn. Ein gesegneter Dorn also, oder ein Gesegneter in den Dornen, gesegnet seien die Dornen oder: Ab in die Dornen mit dem Gesegneten!
Meine Mutter hieß Hana Debora Núñez. Ihren Geburtsort kenne ich nicht. Ich weiß, dass sie in Portugal geboren wurde, vierundzwanzig Jahre bevor sie mich gebar, und vor mir hatte sie Isaak und Miriam auf die Welt gebracht.
Abends, vorm Einschlafen, lauschte ich der warmen Stimme meiner Mutter, die Psalmen sang. Das waren meine ersten Erinnerungen: wie sie am Fenster steht und wie das Licht, das von draußen hereindringt, ihrer Figur eine silberhelle Kontur verleiht, und wie ihre Stimme etwas singt, was ich nicht verstehe. Dann erinnere ich mich, wie ich schon Fragen stellen konnte und fragte: was ist Blut, und was ist ein Tempel, und was ist Jerusalem, und was sind Diener, und Mutter erklärte es mir. Ich fragte: was ist Babylon, was ist eine Weide, was ist eine Harfe. Langsam, durch diese Stimme, kommt der Schlaf, und an der unbestimmten Grenze zwischen Traum und Wachsein höre ich Mutters Stimme von den Heiden singen, die in Gottes Erbe einfielen, den Heiligen Tempel entweihten und Jerusalem dem Erboden gleich machten, und ich beginne im Traum zu sehen, wie die Heiden die Leichname der Gottesdiener den Vögeln unter dem Himmel zum Fraß vorwerfen und die Körper der Heiligen den Tieren auf dem Felde; ich träume, dass vor Jerusalem ihr Blut vergossen wird; in einer anderen Nacht singt Mutters warme Stimme von den Flüssen Babylons und ich träume wieder, ich sehe Männer, Frauen und Kinder an den Flüssen Babylons sitzen und weinen, während sie ihre Harfen in die Bäume hängen; dann wandelt sich die Wärme ihrer Stimme zur Wärme eines Versinkens, eines Falls ins Bodenlose, der gleichzeitig ein Auftauchen ist in eine sich grenzenlos nach oben dehnende Weite, ich verwandle mich in meinem Traum in diese Weite, in einen Raum ohne Grenzen.
Das Haus, von dem der orangefarbene Anstrich blättert – das ist unser Haus. Vor ihm steht eine Reihe Robinien, wie auch vor den anderen Häusern in unserer Straße. Im Frühling und im frühen Sommer wachte ich im Duft der Robinien auf, weil wir Kinder in einem der Zimmer unterm Dach schliefen, zu dessen Fenstern sich die Äste des blühenden Baums hinüberbeugten. Mutter zog die Zweige durch das Fenster in unser Zimmer und pflückte die Blüten, aus denen sie uns im Winter Tee zubereitete. Im Winter schliefen wir alle in einem der Räume im Erdgeschoss, wo sich neben dem großen roten Himmelbett mit Vorhängen, in dem Mutter und Vater schliefen, der Kamin befand; oft blieb Vater vor dem Kamin stehen und ließ in einem wunderbaren Spiel die langen Schatten seiner Finger an der Wand tanzen; mal inszenierte er den Kampf von David und Goliath, mal die Leiden des gerechten Hiob, aber am besten gefiel uns das Schattenspiel von der Sintflut, von der Verkündung durch Gott, über den Bau der Arche, die paarweise Rettung alles Lebenden, den Regen und die Flut, die Suche nach Land, bis hin zur Ankunft und Rettung am Ararat. Vater war unter anderem im Holzhandel tätig – ich erinnere mich, wie Kähne die beschnittenen Baumstämme die Amsterdamer Kanäle entlang schleppten, anhielten, und Männer das Holz in das Geschäft mit der Aufschrift „Michael Spinoza“ trugen; es lag an der Straße, die zum Fischmarkt führte. Später gab Vater diesen Handel auf, weil es, wie er sagte, einfacher sei, Dörrobst, Gewürze und Wein zu verkaufen.
Anfangs blieb ich lieber in dem Zimmer unterm Dach; ich ging nie mit den anderen Kindern hinaus, um vor den Häusern zu spielen: ich liebte es zu schauen, zu beobachten. Abends, wenn ich durch das Bellen eines Hundes oder durch einen unruhigen Traum wach wurde (und in der Kindheit weckten mich oft Träume, in denen Mutter und Vater sich von mir entfernten, vor mir wegliefen, und als ich sie einholte, erkannten sie mich nicht), stand ich leise auf, ohne Miriam, Isaak und Rebekka zu wecken, öffnete das Fenster und sah lange zu den Sternen hinauf. Ich wünschte mir, sie wären Öffnungen, durch die man in einen anderen Himmel eintreten könnte, um von dort, von der Höhe des anderen Himmels, eine andere Stadt zu sehen und einen anderen Bento, der sich danach sehnte, aus dem Fenster seines Zimmers zu einem Stern zu gelangen. Der Gedanke, ich würde mich selbst beobachten, erschien mir anziehend und abstoßend zugleich. Ich erinnere mich, wie der große Spiegel, der eines Tages ins Haus getragen und neben dem Kamin aufgestellt wurde, mich völlig vom Fenster abbrachte; anstelle von anderen begann ich mich selbst zu beobachten. Ich blieb verwirrt vor dem Spiegel stehen, und vom Ausdruck meiner Verwirrung wurde ich noch verwirrter, ich grinste, und dann lachte ich, und wenn mein Lachen vergangen war, begann ich, mein Gesicht zu berühren und das Gesicht, das sich auf der glatten Oberfläche abbildete. Mutter lag auch tagsüber auf dem Himmelbett, weil sie oft krank war; sie sah mir zu und sagte, ich solle doch lieber mit den anderen Kindern spielen gehen. Aber nein, ich stand vom Wachwerden bis zum Einschlafen vorm Spiegel, bis Mutter eines Tages sagte, er könne mich fangen, verschlingen, und dann bliebe ich für immer darin gefangen. Von da an hielt ich vor dem Spiegel immer nur kurz inne, im Vorbeigehen, nur so lange, bis ich mich vergewissert hatte, dass es mich gab, aber zu kurz, um für immer hinter der Scheibe zu verschwinden.
Ich erinnere mich auch an meinen ersten Besuch in der Synagoge, die in zwei aneinandergebauten Häusern untergebracht war: im ersten Raum gab es einen Wasserhahn, wo wir uns die Hände wuschen; ich erinnere mich, wie die Frauen sich von uns entfernten und die Stufen hinaufstiegen, um sich auf die Galerie zu setzen, ich erinnere mich, wie ich versuchte, sie zu sehen, als wir den Raum betraten, und wie Vater mir ein Buch in die Hände legte und sagte, ich solle nicht nach oben sehen; alle trugen weiße Tücher über ihren Käppchen, die Enden fielen ihnen bis auf die Schultern, und in den Händen hielten sie Bücher. In der Mitte des Raumes saßen vier Männer auf einem Podest, drei Fuß höher als der Fußboden, auf dem wir saßen. Ihre Namen lernte ich erst später: Rabbi Morteira, Rabbi David Pardo, Rabbi Menasseh ben Israel und Rabbi Isaak Aboab.
Münzgeklimper mischte sich mit den Düften von Zimt, Trockenfeigen, Datteln, Pfeffer, Äpfeln und Quitten, und die Stimme eines Mannes, der nach algerischen Pfeifen fragte, mischte sich in mein halblautes Lesen, während ich in einer Ecke von Vaters Geschäft saß. Wenn keine Kunden im Laden waren, setzte sich Vater zu mir auf den Boden und sagte:
„Du wirst Rabbiner. In zwei Jahren kommst du in die Schule und eines Tages wirst du Rabbiner.“
Ich wendete die Seiten, las langsam, aber besser als mein Bruder Isaak, der jeden Tag in die Talmud-Tora-Schule ging und mir die Zeichen erklärt hatte.
„Du wirst Rabbiner“, wiederholte Vater jeden Tag. Einer der Rabbiner, Morteira, kam oft in unser Geschäft und kaufte Senfkörner, Pfeffer und Tabak, lauter herbe Dinge. Ich lief um ihn herum, betrachtete ihn von allen Seiten, wie er seinen Bart zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelte und mich musterte. Ich wollte wissen, wie ich wohl eines Tages als Rabbiner aussehen würde.
Auf einmal begann sich der Punkt anzukündigen, der meine Existenz unterbrechen sollte und den Beginn meines Lebens bedeutete. Es begann damit, dass meiner Mutter das Atmen schwer fiel, dass sie im Dunkel der Nacht, wenn sie dachte, wir Kinder würden schlafen, mit erschöpfter Stimme dem Vater zuflüsterte:
„Ich habe Angst, einzuschlafen. Ich habe Angst, dass ich dann vergesse zu atmen.“
Aber ich hörte es doch. In dem Augenblick verloren Traum und Schlaf für mich jede Süße und ich glaubte, wenn ich nicht schliefe, würde ich Mutter helfen, nicht einzuschlafen; ich hatte Angst, dass, wenn ich einschliefe, auch sie einschliefe und zu atmen vergäße. Diese Angst war so stark, dass ich mit kurzen Nickerchen über Tag auskam, während Mutter kochte oder einkaufen ging, und wenn sie vom Markt zurückkam und sagte: „Dieses Jahr haben die Robinien nicht geblüht“, öffnete ich langsam die Augen und vergaß, was ich geträumt hatte, und dieses Vergessen des Geträumten verfolgte mich wie ein hungriger Hund, fast bis zu meinem Tod.
Dann hörte Mutter auf zu kochen und zum Markt zu gehen; den Haushalt übernahm Miriam, die sich außerdem um Mutters Pflege kümmerte: sie kochte ihr Tee, legte ihr warme Wickel auf Stirn und Brust. Nach einigen Monaten bemerkte ich, dass sich ein Schatten des Alterns auf Miriams neunjähriges Gesicht gelegt hatte. Neben Mutter und dem Haushalt hatte sie auch den gerade geborenen Gabriel zu versorgen.
„Dieses Jahr haben die Robinien nicht geblüht“, wiederholte Mutter zwischen zwei Hustenanfällen, zwischen zwei Schläfchen auf dem hohen Federkissen, zwischen zwei Bissen von in Milch eingeweichtem Brot. Und dann begann sie in eine Art Ohnmacht zu fallen und auch wenn sie wach war, schien sie zu schlafen, ihre Pupillen ruhten nicht, sondern zitterten ganz seltsam, als würden sie ein am Horizont aufgehängtes Pendel sehen und dessen Bewegungen folgen - links, rechts, links, rechts. Ihre Ohnmacht weckte in mir eine seltsame Sehnsucht, ich spürte ein scharfes Stechen in der Brust und wollte aufweinen wie wenn ich beim Laufen fiel und mir das Knie aufschlug oder wenn ich mir beim Essen auf die Zunge biss, aber es war, als hielte eine unbekannte Macht meine Tränen und meine Stimme zurück. Ich drückte mich dauernd um das große rote Himmelbett herum, auf dem sie lag, ich versuchte zu lächeln, obwohl mein Mund zitterte, und heute wundere ich mich ein wenig, was ich als sechsjähriger Knirps alles unternahm, wie ich versuchte, sie aufzuheitern, indem ich ihr Abschnitte der Tora ins Ohr flüsterte, oder wie ich versuchte, sie zumindest zu ärgern, indem ich sie in die Hand zwickte oder am Kopfende des Bettes kräftig auf den Boden stampfte, aber sie blieb einfach reglos liegen (Regung zeigten einzig und allein ihre Pupillen, die kaum merklich zitterten und deutlich machten, dass sie nichts sah). Eines Morgens, nach Tagen des Schweigens und nachdem Miriam ihr zu essen gegeben hatte, öffnete Mutter leicht den Mund und fragte:
„Haben die Robinien geblüht?“
„Es ist zu spät, dieses Jahr blühen sie nicht mehr. Es schneit schon“, sagte Miriam mit einem Blick aus dem Fenster, und als sie sich Mutter wieder zuwandte, bemerkte sie, dass die Pupillen, das einzige Zeichen des Lebens in Mutters Gesicht, erstarrt waren, wie im Gesicht einer Toten. „Mama!“ rief sie aus und versuchte, Mutter zu Bewusstsein zu bringen, indem sie ihre Hand schüttelte und ihr ein wenig Wasser ins Gesicht spritze. „Ich hole Vater, du bleibst hier“, befahl sie mir und lief aus dem Haus.
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