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Prosa
Jordan Plevneš
"Das achte Weltwunder", Roman
Aus dem Makedonischen von Will Firth
Leseprobe
"Das achte Weltwunder", Roman
Aus dem Makedonischen von Will Firth
„Das Achte Weltwunder“ ist ein Roman mit dem ästhetischen und kryptomessianischen Anspruch, die Sehnsucht zu steigern, das Unsichtbare sichtbar zu machen und ein Wunder zu erbauen, das die Natur ästhetisieren und die Ästhetik und die Schönheit naturalisieren wird. Er ist voller gediegener Schwermut, gepaart mit funkelnder Ironie und humoristischer Inspiration. Dadurch wird eine diskrete Distanz zu den Ereignissen des Romans erreicht. Eben das macht das Unmögliche möglich, das Unbeständige beständig, das Irreale real, das Imaginative wirklich. Der Roman und sein Autor suggerieren uns einen neuen Kosmopolitismus, eine neue Utopie, eine neue Pulsation des Universums, als liefe alles im Schopenhauerschen Sinne: Das, was wir suchen, das, was wir erwarten, wartet schon auf uns.
Georgi Stardelov
Leseprobe
Ende Dezember 1989, nach der fünften Kontrolluntersuchung, stellte ihm das Fachkonsilium des Auguste-Viktoria-Klinikums ein Attest aus, das ihm nach dem Sturz eine bleibende Untauglichkeit für Fassadenarbeiten bescheinigte. Nach zwanzig Jahren Betriebszugehörigkeit stand ihm folglich eine lebenslange Rente aus Deutschland in Höhe von 2.936 DM (oder 1.468 Euro) zu.
Am selben Abend, im Restaurant „Goethes Garten“ mit Blick auf die Spree, gab der stellvertretende Direktor der Firma Weltbauzeit, Hans Neubauer, ein Festessen zu Ehren von Alexander Simsar, genannt „der Große“, und seiner Frau Cveta. Dieser keineswegs emotionsfreien Feier wohnte auch ein Dutzend Kollegen unseres aufopferungsvollen Fassadenmeisters bei. Als die Zeit für seinen Dankestoast kam, zog Alexander ein winziges Stückchen Beton von der Berliner Mauer aus der Tasche, holte einen kleinen Hammer hervor und zertrümmerte es. Er las den Staub mit der rechten Hand auf, ließ ihn mit der linken in sein Weinglas rieseln und sprach:
„Ich erhebe mein Glas auf die unzähligen Höhen, die ich dank der Weltbauzeit erlangt habe. Meinen Kollegen und der Unternehmensleitung wünsche ich ein langes und glückliches Leben! Diesen Wein trinke ich mit einem Stück in Staub verwandelter Berliner Mauer. Möge dieser durch mein Blut spazieren, um den feierlichen Augenblick ihres Falls und meines Sturzes zu betonen, in dieser Zeit, in der sich Wege der Freiheit und der Annäherung von Ost und West in unserem gemeinsamen europäischen Haus eröffnen. Dabei rückt die Erlösung kleiner europäischer Nationen, wie etwa das heutige Überbleibsel meines kleinen Landes, Mazedoniens, in greifbare Nähe. Zweimal schon im zwanzigsten Jahrhundert ging das Grauen des menschlichen Bösen in Form der zwei Weltkriege von Deutschland aus. Möge diesmal von Deutschland die Schönheit der Hoffnung und der Erlösung ausgehen und sich auf Europa und die ganze Welt ausbreiten! Als bescheidenen Beitrag dazu werde ich in Mazedonien ein in der Weltgeschichte einmaliges steinernes Bauwerk errichten, das zwei Schlüsselerlebnisse meines Lebens verbindet: den kindlichen Traum während der Beerdigung meines Vaters und den Augenblick meines Sturzes in die Tiefe, bei dem mir dieses Bauwerk zentimetergenau und in allen Details erschienen ist. Man könnte es das Achte Weltwunder nennen ...“
An dieser Stelle trat eine unbehagliche Pause ein. Die Weltbauzeit-Kollegen sahen Alexander mit einer Mischung aus Begeisterung und Mitleid an. Er selber empfand seine Schwärmerei als Normalzustand, der nach dem Sturz mit unwahrscheinlichem Selbstbewusstsein angereichert war: Über das, was er zu tun gedachte, sprach er, als wäre es schon geschehen – nicht mehr und nicht weniger! Mit dem Glas in der erhobenen Hand blieb er nun plötzlich stehen und sein abgestürzter Verstand erlahmte. Schlicht-feierlich gekleidet im schwarzen Anzug stand er da; blütenweiß schimmerte das bis zum Hals zugeknöpfte, von seiner Mutter handbestickte Hemd, das Cveta mitgebracht hatte, um ihn darin nach Mazedonien zurückzuholen – Gott verhüte, tot oder, geb’s Gott, lebendig. Noch ragte sein Arm mit dem Glas in der Hand in die Höhe, aber sein Verstand stockte und sein Mund erstarrte. Cveta erblasste vor Angst auf dem Platz rechts neben ihm.
„Ach du großer Gott, ach du Schreck!“ stieß sie aus. „Wann hat es das jemals gegeben: einen Toten, der auf beiden Beinen aufrecht steht, mit erhobenem Arm?!“
Und dann? Als wäre gar nichts gewesen, öffnete er wieder den Mund, feuchtete die Lippen kurz mit der Zunge an und fuhr fort:
„Als ich von einem achten Weltwunder sprach, waren Sie vielleicht überrascht. Wir wissen ja, dass es sieben Weltwunder gibt, haben Sie sich wohl gesagt. Aber kaum jemand kennt sie alle, und wer kann sie schon auswendig nennen? Bevor ich dieses Glas in Erinnerung an den Fall der Berliner Mauer und an meinen Sturz austrinke – und auf Ihr Wohl und zu Ehren meiner lieben Frau Cveta, die aus Mazedonien angereist ist, um mich lebendig oder tot heimzuholen –, werde ich Sie an die Sieben Weltwunder erinnern, die Philon in seinem Werk „De septem orbis miraculis“ gegen Ende des dritten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung beschrieb. Danach werde ich Ihnen vom achten erzählen.
Als erstes nennt Philon die Cheops-Pyramide in Ägypten. Als zweites: die Gärten der Semiramis zu Babylon. Als drittes: die Zeusstatue des Phidias von Olympia, aus Gold und Elfenbein. Als viertes: den Tempel der Artemis in Ephesos. Als fünftes: das Mausoleum von Halikarnassos. Als sechstes: den Koloss von Rhodos, eine Statue des Sonnengottes Helios. Als siebtes: den Leuchtturm von Alexandria. Was aber ist das achte? Das ist das Geheimnis, das ich mit Ihnen teilen möchte: die Wiege der Welt in Mazedonien!
Dieses Achte Weltwunder werde ich auf dem mazedonischen Berg Galičica erbauen, von dem aus man einen direkten Blick auf den Ohridsee und den Prespasee hat. Das ist eine der schönsten Landschaften nicht nur Europas, sondern der ganzen Welt, zumindest demzufolge, was ich persönlich gesehen habe. Ja, Europa braucht ein solches neues Weltwunder, um die historische Logik seiner Existenz zu überwinden, die von einer gewaltigen Produktion von Tod durch die zwei großen Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts, den Faschismus und den Kommunismus, geprägt ist. Bereits im neunzehnten Jahrhundert wurde Europa in einem bekannten russischen Roman „das teuerste Grab der Welt“ genannt, eben wegen seines Merkantilismus. Dieser droht schon morgen, unter den neuen historischen Bedingungen nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Heben des Eisernen Vorhangs, den Menschen in den Fesseln des Konsums neu zu versklaven, damit er vergisst, dass er als Gast auf diese Welt gekommen ist. Bewusst oder unbewusst soll er zum Sklaven jener Ideologie gemacht werden, die sich seit mehreren Jahrhunderten behauptet hat: die Ideologie des Kapitalismus und die Tyrannei, die nicht nur seit Jahrhunderten, sondern schon seit Jahrtausenden souverän über die Menschheit herrscht – die Despotie des Geldes!“
Hier setzte unser abgestürzter Held das Glas kurz an den Mund und feuchtete die Lippen an. Die Gäste des Festessens sahen einander beunruhigt an und erschauerten, als wären sie beim Mörderspiel angezwinkert worden. Bevor es aber zu einer akustischen Pause kommen konnte, fuhr der Abgestürzte mit gesteigerter Leidenschaft fort:
„Um Europa vom teuersten Grab der Welt in eine ‚Wiege der Zivilisation‘ zu verwandeln, wie es beim Übergang von der Antike zur Neuzeit genannt wurde, muss die Wiege der Welt entstehen. Ich habe mich entschieden, sie zu bauen und damit basta! Es soll eine Art lebendes Denkmal menschlichen Daseins werden, das sich seit Bestehen der Welt zwischen den zwei Polen der Gewissheit – Geburt und Tod – abspielt. Wenn wir den Tod beiseite lassen und mit dem architektonischen Gesamtgedächtnis der Menschheit (von den Azteken bis hin zum fernöstlichen, persischen, römischen und europäischen Erbe) das Bedürfnis nach einer Geburtsfeier für uns und künftige Generationen visuell thematisieren, drängt sich ein solches Bauwerk am Übergang zum dritten Jahrtausend als nahezu unentbehrlich auf. Ja, liebe Kollegen, meine Damen und Herren, die Menschheit muss ein zeitloses Bauwerk schaffen, das sich über alle Unterschiede der Nation, Religion, Gesinnung, Hautfarbe und Herkunft erhebt, damit die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden. Sie darf die rücksichtslose Logik der Selbstzerstörung nicht fortsetzen und sich dann einreden, dass eine Idee, die zu einer organisierten Maschinerie wurde und Millionen unschuldiger Männer, Frauen und Kinder tötete, ein Fehler war. Der Kommunismus legt los und verwüstet den halben Planeten, und sieben Jahrzehnte später stellt man fest: das war ein Fehler. Der Faschismus legt los und verübt die schwärzesten Verbrechen, die es in der gesamten Geschichte jemals gegeben hat, und man stellt fest: das war ein Fehler. Morgen wird der Kapitalismus loslegen, die Tyrannei des Geldes, die ebenso den massenhaften Tod von Menschen, Gemeinschaften und ganzen Völkern zeitigen kann, und hinterher wird man feststellen: das war ein Fehler ... Das dürfen wir keinesfalls zulassen, wegen der künftigen Generation und insbesondere wegen aller vergangenen Generationen, denn eines Tages werden die unschuldigen Opfer aller Zeiten auferstehen und der allergrößte Krieg der Menschheitsgeschichte wird ausbrechen – ein Kampf zwischen den Toten und den Lebenden. Und wissen Sie, wem dabei der Sieg sicher ist? Wissen Sie, wie sehr die Toten den Lebenden zahlenmäßig überlegen sind? Können Sie sich ein solches Bild vorstellen? Ich mir schon, weil ich einen Sturz aus großer Höhe überlebt habe! Dank Ihnen blieb ich am Leben, dank der Schnelligkeit des Rettungsdienstes der Weltbauzeit und dem einwandfreien Eingriff von Professor Rudolf Benn an der neurochirurgischen Abteilung des Auguste-Viktoria-Klinikums, und selbstverständlich auch dank meiner lieben Frau Cveta, die alle Kirchen Mazedoniens in ihre Engelshände nahm, sie zu einer glühenden Kerze formte und für meine Genesung betete. Und wozu? Damit ich meine Schuldigkeit an Deutschland und Europa tun kann, an der Weltarchitektur und der Geschichte, an den Irrtümern und Träumen der Welt, an all unseren Vorfahren, Müttern, Vätern und Geschwistern, am engeren und weiteren Familienkreis, an allen Cousins und Cousinen, Onkeln und Tanten, Liebhabern und Kollegen, Freunden und Feinden, Bekannten und Unbekannten. Das Achte Weltwunder werde ich mit Ihrer Hilfe errichten, mit der Hilfe aller Genannten, und natürlich auch mit Gottes Hilfe, denn als mir mein Vater im Traum erschien, wurde mir klar, dass der Herr eigentlich nichts anderes ist als ein ewiger Vater eines ewigen Schülers, der über eine unheilbare Krankheit oder das Rätsel der Existenz staunt.
Der Herr möge mir verzeihen, aber in den Augen meines Vaters habe ich Seine Augen gesehen. Eines muss man wissen: Ohne Vater, und insbesondere ohne Mutter, hat der Herr keine Chance zu existieren. Er ist zwar in allem, aber erst seitdem du auf der Welt bist! Wenn du nicht auf die Welt kommst, kannst du nicht wissen, dass es Ihn gibt!
Jetzt komme ich wieder auf das Weltwunder zu sprechen. Ich werde Ihnen einige Aspekte des Bauwerks mitteilen, dessen Wurzeln in die große Tradition der mazedonischen Alchemie in der Weltbaugeschichte zurückreichen. Man muss sich vor Augen führen, dass schon zu Zeiten Alexanders des Großen, also vor zweitausenddreihundert und ein paar Jahren, mazedonische Maurermeister die Weltarchitektur um das Prinzip des ‚Unmöglichen als möglich‘ bereichert haben. Am 7. April 331 vor Christus führte Alexander nach seinem Besuch beim Orakel des Amun in der Oase Siwa, unmittelbar nach der Ankunft in Ägypten, mit seinem Architekten Deinokrates ein Gespräch an der Stelle, wo er die Stadt Alexandria gründen sollte.
‚Ist es möglich, die Bibliothek von Alexandria, die das ganze Wissen der Welt sammeln wird, im bildhaften Baustil mit Fresken zu gestalten oder die Fassadenmauer wie ein Tuch zu spannen, damit man eine dreidimensionale Illusion des Raums in der Fassadenfläche bekommt?‘
‚Das ist unmöglich!‘, antwortete Deinokrates.
‚Wenn das Unmögliche nicht möglich wird, in dem was wir bauen, will ich kein einziges Alexandria errichten!‘, erwiderte der junge Imperator seinem Architekten.
Wie wir wissen, wurden im Laufe seines Lebens – und er lebte nur 33 Jahre –, ganze 77 Alexandrias auf der Welt gegründet, die noch heute seinen Namen tragen, weil mazedonische Handwerksmeister das Geheimnis des Unmöglichen als möglich von Ägypten über Kleinasien nach Baktrien brachten, in das heutige Afghanistan, und weiter nach Persien und Indien, bis es Eingang in die Weltarchitektur fand!
Aber zurück zur Wiege der Welt und ihren wichtigsten Elementen, die Sie, sehr geehrte Gastgeber und Zeugen meines Sturzes, anlässlich dieser liebenswürdigen Verabschiedung meiner Wenigkeit als erste erfahren werden.
Das Achte Weltwunder wird über einem Wald von Marmorsäulen errichtet, 365 an der Zahl und 53,5 Meter hoch, was der Höhe der Gedächtniskirche in Berlin entspricht, von der ich fiel und was ich glücklicherweise überlebte. Da die Anzahl der Tage im Jahr bislang die einzige Zahl ist, über die sich die ganze Welt einig ist, wird das die Basis der Aufteilung, in der sich alle Aspekte historischer, sozialer, ökonomischer, geographischer und politischer Gerechtigkeit wiederfinden werden. Alle Tage gehören allen gleichermaßen: allen anerkannten, bekannten und unbekannten Staaten, Sprachen und Völkern. Montag ist überall Montag. Dienstag ist überall Dienstag. Vom Mittwoch gar nicht zu reden. Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag – fertig. Und nochmals Montag. Die von den Säulen gebildete Wiege der Welt wird vom Flugzeug aus in fünf- bis zehntausend Metern Höhe zu sehen sein. Aus jeder Maschine, die über Europa fliegt. Man wird sogar spezielle Flüge organisieren, um sie zu besichtigen, zum Beispiel von Berlin nach Alexandria, ohne in Mazedonien zwischenlanden zu müssen, wenn man keine Zeit dafür hat. Die Wiege wird ständig schaukeln und damit das einzige Bauwerk in der bekannten Geschichte der Menschheit sein, das ewig in Bewegung ist, denn die Marmorsäulen, über denen die hölzerne Wiege an Stahldrähten im leeren Mittelraum schwebt, sollen im Verhältnis zu den vorherrschenden Luftströmungen stehen und werden ein ständiges Schaukeln des Menschengeschlechts während seines Verweilens auf Erden bewirken.
Noch wichtiger: Alle jetzigen und zukünftigen Staaten, Mitglieder der Vereinten Nationen, wie auch nichtanerkannte, Halb- oder Parastaaten, sogar auch bedrohte Völker – alle außer den schon verschwundenen! –, werden kommen können und an den großen Säulen in allen 6.703 bekannten Sprachen der Welt die Namen von zwei Arten von Kindern mit Hilfe spezialisierter Steinmetzmeister einmeißeln lassen: die Heilandskinder, damit diese sich in dem Volk mehren, und die Mörderkinder, damit es sie nie wieder geben möge.
Zur Illustration: Eine Delegation deutscher Humanisten, der Bundestagspräsident oder der Vertreter einer Region, etwa von Nordrhein-Westfalen, besucht die Wiege der Welt und überbringt folgenden Vorschlag: Goethe, Heine, Büchner und Beethoven sollen in die Marmorsäulen der Heilandskinder eingraviert werden; Hitler, Goebbels und Göring dafür in die Marmorsäulen der Mörderkinder, die große menschliche Katastrophen verursacht haben. Die Meister werden die Namen ins steinerne Weiß eintragen. Alles wird weiß ausgeführt aus dem einfachen Grund, dass in der Weltgeschichte nichts schwarz-weiß ist. Am Anfang ist alles weiß. Nehmen wir die Geburt eines Kindes, das dreißig Jahre später zum Mörder von Millionen wird: Weiß denn die Mutter, dass ihr in weiße Windeln gewickeltes, von der Freude der Nächsten umgebenes Neugeborenes morgen zum Monstrum wird, das Millionen Menschen umbringt und eine ganze Epoche in Trauerschwarz hüllt? Nein, sie kann es nicht wissen! Folglich ist anfangs alles absolut weiß, und nachher wird es absolut schwarz.“
Unser Held huschte durch das Labyrinth seines Gedankens mit solchem Geschick, dass die Anwesenden ihm mit großer Aufmerksamkeit folgten, aber auch mit der Angst, er könne jeden Augenblick über dem feierlich gedeckten Tisch zusammenbrechen. Aber er fuhr fort in dem dringenden Bedürfnis, die Idee des Achten Weltwunders, die von seiner durchgerüttelten Hirnmasse Besitz ergriffen hatte, mit erlesenen Worten möglichst deutlich darzustellen.
„Liebe Kollegen, meine Damen und Herren“, sagte schließlich Alexander Simsar, „ich lenke Ihre Aufmerksamkeit auf die Weihwasserpforte, die am Eingang der Wiege der Welt entstehen wird. Jeder Besucher muss sich nackt oder bekleidet ins Wasser begeben, um sich physisch von seinen Sünden der Vergangenheit und der Zukunft zu reinigen, ebenso von seinen sündhaften Gedanken, damit er geläutert unter die Wiege der Welt gelangt, in der die ungeborenen Kinder des Menschengeschlechts schlafen werden. Hier muss ich einräumen, dass mich der heilige See der Tempelanlage in Karnak beeinflusst hat, ebenso aber das spezifisch Mazedonische daran, zumal der Halbbruder Alexanders, Philipp Arrhidaios, 330 vor Christus den mazedonischen Geist dort in die bauliche Alchemie des Amun-Re-Kultes einführte. Nachdem der Besucher sich gewaschen hat, betritt er den Wald aus weißen Marmorsäulen, und jetzt sieht man, was das Achte Weltwunder bietet: ein Wiegenlied in einer der 6.703 bekannten Sprachen, aus dem Fundus der Völker auf unserer Heimat Erde! Aus dem Klanggedächtnis der Marmorsäulen werden all die himmlischsten Wiegenlieder der Menschheitsgeschichte ertönen. Der Besucher wird das Lied in der Sprache seiner Wahl hören und die Wiege der Welt selbst wird unter dem Sternenhimmel beten. Das ist der Augenblick, in dem die Menschheit nicht nur individuell, sondern auch kollektiv erkennen wird, was sie in diesem Moment am dringendsten braucht: die Entwöhnung vom Hass und den Aufbruch in ein neues Zeitalter, in dem Liebe, Toleranz und gegenseitige Verständigung zwischen den Völkern und den Einzelnen auf Erden herrschen werden! Nach einem einzigen Besuch eines beliebigen Menschen wird sich die Botschaft von der Existenz des Achten Weltwunders verbreiten, von Mund zu Mund, von Mund zu Ohr, von einem Mann zum anderen, von einer Frau zur anderen, von einem Kind zum anderen, so dass jeder – oder fast jeder – Bewohner unserer Erde sich fragen wird, ob er ein erfülltes Leben führen kann, ohne mit eigenen Augen das einzige Bauwerk gesehen zu haben, das jede Geburt auf der Welt feiert und nicht nach Hautfarbe, Religion, Nation, sozialer oder politischer Zugehörigkeit unterscheidet! Die Botschaft von der Wiege der Welt wird in die Seele jedes Einzelnen dringen und die bisher größte Umwälzung in der Geschichte des Menschengeschlechts hervorrufen. Machen Sie sich für große Überraschungen bereit!“
Hier machte Alexander Simsar eine dramatische Pause, die so voller Spannung war, dass seine Frau Cveta beinahe einen Herzschlag bekommen hätte.
„Machen Sie sich bereit“, wiederholte er, und alle Anwesenden im Restaurant wurden ganz Ohr und Auge. Er hatte eindeutig den Eindruck, als würde ihm nicht nur ganz Berlin zuhören, sondern auch ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural sowie ganz Amerika, Asien, Lateinamerika und Afrika.“
Aber was geschah dann, lieber Leser?
Eine mysteriöse weiße Gestalt im weißen Anzug, mit weißen Haaren und schwarzer Brille – wie ein blasser Dracula-Nachkomme –, mit gelbem Rosenkranz in den fahlen Händen, stand vom Tisch in der rechten Ecke des Restaurants auf, an dem er allein gesessen hatte, ging auf die festliche Gesellschaft der Weltbauzeit zu und fragte einen von Simsars Kollegen:
„Wer ist das?“
Der Angesprochene flüsterte ihm ins weiße Ohr:
„Das ist unser Fassadenmeister, der einen schweren Unfall hatte. Er stürzte von der Gedächtniskirche und blieb am Leben!“
Die weiße Gestalt bedankte sich und ging zurück zu ihrem Platz.
Am selben Abend, im Restaurant „Goethes Garten“ mit Blick auf die Spree, gab der stellvertretende Direktor der Firma Weltbauzeit, Hans Neubauer, ein Festessen zu Ehren von Alexander Simsar, genannt „der Große“, und seiner Frau Cveta. Dieser keineswegs emotionsfreien Feier wohnte auch ein Dutzend Kollegen unseres aufopferungsvollen Fassadenmeisters bei. Als die Zeit für seinen Dankestoast kam, zog Alexander ein winziges Stückchen Beton von der Berliner Mauer aus der Tasche, holte einen kleinen Hammer hervor und zertrümmerte es. Er las den Staub mit der rechten Hand auf, ließ ihn mit der linken in sein Weinglas rieseln und sprach:
„Ich erhebe mein Glas auf die unzähligen Höhen, die ich dank der Weltbauzeit erlangt habe. Meinen Kollegen und der Unternehmensleitung wünsche ich ein langes und glückliches Leben! Diesen Wein trinke ich mit einem Stück in Staub verwandelter Berliner Mauer. Möge dieser durch mein Blut spazieren, um den feierlichen Augenblick ihres Falls und meines Sturzes zu betonen, in dieser Zeit, in der sich Wege der Freiheit und der Annäherung von Ost und West in unserem gemeinsamen europäischen Haus eröffnen. Dabei rückt die Erlösung kleiner europäischer Nationen, wie etwa das heutige Überbleibsel meines kleinen Landes, Mazedoniens, in greifbare Nähe. Zweimal schon im zwanzigsten Jahrhundert ging das Grauen des menschlichen Bösen in Form der zwei Weltkriege von Deutschland aus. Möge diesmal von Deutschland die Schönheit der Hoffnung und der Erlösung ausgehen und sich auf Europa und die ganze Welt ausbreiten! Als bescheidenen Beitrag dazu werde ich in Mazedonien ein in der Weltgeschichte einmaliges steinernes Bauwerk errichten, das zwei Schlüsselerlebnisse meines Lebens verbindet: den kindlichen Traum während der Beerdigung meines Vaters und den Augenblick meines Sturzes in die Tiefe, bei dem mir dieses Bauwerk zentimetergenau und in allen Details erschienen ist. Man könnte es das Achte Weltwunder nennen ...“
An dieser Stelle trat eine unbehagliche Pause ein. Die Weltbauzeit-Kollegen sahen Alexander mit einer Mischung aus Begeisterung und Mitleid an. Er selber empfand seine Schwärmerei als Normalzustand, der nach dem Sturz mit unwahrscheinlichem Selbstbewusstsein angereichert war: Über das, was er zu tun gedachte, sprach er, als wäre es schon geschehen – nicht mehr und nicht weniger! Mit dem Glas in der erhobenen Hand blieb er nun plötzlich stehen und sein abgestürzter Verstand erlahmte. Schlicht-feierlich gekleidet im schwarzen Anzug stand er da; blütenweiß schimmerte das bis zum Hals zugeknöpfte, von seiner Mutter handbestickte Hemd, das Cveta mitgebracht hatte, um ihn darin nach Mazedonien zurückzuholen – Gott verhüte, tot oder, geb’s Gott, lebendig. Noch ragte sein Arm mit dem Glas in der Hand in die Höhe, aber sein Verstand stockte und sein Mund erstarrte. Cveta erblasste vor Angst auf dem Platz rechts neben ihm.
„Ach du großer Gott, ach du Schreck!“ stieß sie aus. „Wann hat es das jemals gegeben: einen Toten, der auf beiden Beinen aufrecht steht, mit erhobenem Arm?!“
Und dann? Als wäre gar nichts gewesen, öffnete er wieder den Mund, feuchtete die Lippen kurz mit der Zunge an und fuhr fort:
„Als ich von einem achten Weltwunder sprach, waren Sie vielleicht überrascht. Wir wissen ja, dass es sieben Weltwunder gibt, haben Sie sich wohl gesagt. Aber kaum jemand kennt sie alle, und wer kann sie schon auswendig nennen? Bevor ich dieses Glas in Erinnerung an den Fall der Berliner Mauer und an meinen Sturz austrinke – und auf Ihr Wohl und zu Ehren meiner lieben Frau Cveta, die aus Mazedonien angereist ist, um mich lebendig oder tot heimzuholen –, werde ich Sie an die Sieben Weltwunder erinnern, die Philon in seinem Werk „De septem orbis miraculis“ gegen Ende des dritten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung beschrieb. Danach werde ich Ihnen vom achten erzählen.
Als erstes nennt Philon die Cheops-Pyramide in Ägypten. Als zweites: die Gärten der Semiramis zu Babylon. Als drittes: die Zeusstatue des Phidias von Olympia, aus Gold und Elfenbein. Als viertes: den Tempel der Artemis in Ephesos. Als fünftes: das Mausoleum von Halikarnassos. Als sechstes: den Koloss von Rhodos, eine Statue des Sonnengottes Helios. Als siebtes: den Leuchtturm von Alexandria. Was aber ist das achte? Das ist das Geheimnis, das ich mit Ihnen teilen möchte: die Wiege der Welt in Mazedonien!
Dieses Achte Weltwunder werde ich auf dem mazedonischen Berg Galičica erbauen, von dem aus man einen direkten Blick auf den Ohridsee und den Prespasee hat. Das ist eine der schönsten Landschaften nicht nur Europas, sondern der ganzen Welt, zumindest demzufolge, was ich persönlich gesehen habe. Ja, Europa braucht ein solches neues Weltwunder, um die historische Logik seiner Existenz zu überwinden, die von einer gewaltigen Produktion von Tod durch die zwei großen Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts, den Faschismus und den Kommunismus, geprägt ist. Bereits im neunzehnten Jahrhundert wurde Europa in einem bekannten russischen Roman „das teuerste Grab der Welt“ genannt, eben wegen seines Merkantilismus. Dieser droht schon morgen, unter den neuen historischen Bedingungen nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Heben des Eisernen Vorhangs, den Menschen in den Fesseln des Konsums neu zu versklaven, damit er vergisst, dass er als Gast auf diese Welt gekommen ist. Bewusst oder unbewusst soll er zum Sklaven jener Ideologie gemacht werden, die sich seit mehreren Jahrhunderten behauptet hat: die Ideologie des Kapitalismus und die Tyrannei, die nicht nur seit Jahrhunderten, sondern schon seit Jahrtausenden souverän über die Menschheit herrscht – die Despotie des Geldes!“
Hier setzte unser abgestürzter Held das Glas kurz an den Mund und feuchtete die Lippen an. Die Gäste des Festessens sahen einander beunruhigt an und erschauerten, als wären sie beim Mörderspiel angezwinkert worden. Bevor es aber zu einer akustischen Pause kommen konnte, fuhr der Abgestürzte mit gesteigerter Leidenschaft fort:
„Um Europa vom teuersten Grab der Welt in eine ‚Wiege der Zivilisation‘ zu verwandeln, wie es beim Übergang von der Antike zur Neuzeit genannt wurde, muss die Wiege der Welt entstehen. Ich habe mich entschieden, sie zu bauen und damit basta! Es soll eine Art lebendes Denkmal menschlichen Daseins werden, das sich seit Bestehen der Welt zwischen den zwei Polen der Gewissheit – Geburt und Tod – abspielt. Wenn wir den Tod beiseite lassen und mit dem architektonischen Gesamtgedächtnis der Menschheit (von den Azteken bis hin zum fernöstlichen, persischen, römischen und europäischen Erbe) das Bedürfnis nach einer Geburtsfeier für uns und künftige Generationen visuell thematisieren, drängt sich ein solches Bauwerk am Übergang zum dritten Jahrtausend als nahezu unentbehrlich auf. Ja, liebe Kollegen, meine Damen und Herren, die Menschheit muss ein zeitloses Bauwerk schaffen, das sich über alle Unterschiede der Nation, Religion, Gesinnung, Hautfarbe und Herkunft erhebt, damit die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden. Sie darf die rücksichtslose Logik der Selbstzerstörung nicht fortsetzen und sich dann einreden, dass eine Idee, die zu einer organisierten Maschinerie wurde und Millionen unschuldiger Männer, Frauen und Kinder tötete, ein Fehler war. Der Kommunismus legt los und verwüstet den halben Planeten, und sieben Jahrzehnte später stellt man fest: das war ein Fehler. Der Faschismus legt los und verübt die schwärzesten Verbrechen, die es in der gesamten Geschichte jemals gegeben hat, und man stellt fest: das war ein Fehler. Morgen wird der Kapitalismus loslegen, die Tyrannei des Geldes, die ebenso den massenhaften Tod von Menschen, Gemeinschaften und ganzen Völkern zeitigen kann, und hinterher wird man feststellen: das war ein Fehler ... Das dürfen wir keinesfalls zulassen, wegen der künftigen Generation und insbesondere wegen aller vergangenen Generationen, denn eines Tages werden die unschuldigen Opfer aller Zeiten auferstehen und der allergrößte Krieg der Menschheitsgeschichte wird ausbrechen – ein Kampf zwischen den Toten und den Lebenden. Und wissen Sie, wem dabei der Sieg sicher ist? Wissen Sie, wie sehr die Toten den Lebenden zahlenmäßig überlegen sind? Können Sie sich ein solches Bild vorstellen? Ich mir schon, weil ich einen Sturz aus großer Höhe überlebt habe! Dank Ihnen blieb ich am Leben, dank der Schnelligkeit des Rettungsdienstes der Weltbauzeit und dem einwandfreien Eingriff von Professor Rudolf Benn an der neurochirurgischen Abteilung des Auguste-Viktoria-Klinikums, und selbstverständlich auch dank meiner lieben Frau Cveta, die alle Kirchen Mazedoniens in ihre Engelshände nahm, sie zu einer glühenden Kerze formte und für meine Genesung betete. Und wozu? Damit ich meine Schuldigkeit an Deutschland und Europa tun kann, an der Weltarchitektur und der Geschichte, an den Irrtümern und Träumen der Welt, an all unseren Vorfahren, Müttern, Vätern und Geschwistern, am engeren und weiteren Familienkreis, an allen Cousins und Cousinen, Onkeln und Tanten, Liebhabern und Kollegen, Freunden und Feinden, Bekannten und Unbekannten. Das Achte Weltwunder werde ich mit Ihrer Hilfe errichten, mit der Hilfe aller Genannten, und natürlich auch mit Gottes Hilfe, denn als mir mein Vater im Traum erschien, wurde mir klar, dass der Herr eigentlich nichts anderes ist als ein ewiger Vater eines ewigen Schülers, der über eine unheilbare Krankheit oder das Rätsel der Existenz staunt.
Der Herr möge mir verzeihen, aber in den Augen meines Vaters habe ich Seine Augen gesehen. Eines muss man wissen: Ohne Vater, und insbesondere ohne Mutter, hat der Herr keine Chance zu existieren. Er ist zwar in allem, aber erst seitdem du auf der Welt bist! Wenn du nicht auf die Welt kommst, kannst du nicht wissen, dass es Ihn gibt!
Jetzt komme ich wieder auf das Weltwunder zu sprechen. Ich werde Ihnen einige Aspekte des Bauwerks mitteilen, dessen Wurzeln in die große Tradition der mazedonischen Alchemie in der Weltbaugeschichte zurückreichen. Man muss sich vor Augen führen, dass schon zu Zeiten Alexanders des Großen, also vor zweitausenddreihundert und ein paar Jahren, mazedonische Maurermeister die Weltarchitektur um das Prinzip des ‚Unmöglichen als möglich‘ bereichert haben. Am 7. April 331 vor Christus führte Alexander nach seinem Besuch beim Orakel des Amun in der Oase Siwa, unmittelbar nach der Ankunft in Ägypten, mit seinem Architekten Deinokrates ein Gespräch an der Stelle, wo er die Stadt Alexandria gründen sollte.
‚Ist es möglich, die Bibliothek von Alexandria, die das ganze Wissen der Welt sammeln wird, im bildhaften Baustil mit Fresken zu gestalten oder die Fassadenmauer wie ein Tuch zu spannen, damit man eine dreidimensionale Illusion des Raums in der Fassadenfläche bekommt?‘
‚Das ist unmöglich!‘, antwortete Deinokrates.
‚Wenn das Unmögliche nicht möglich wird, in dem was wir bauen, will ich kein einziges Alexandria errichten!‘, erwiderte der junge Imperator seinem Architekten.
Wie wir wissen, wurden im Laufe seines Lebens – und er lebte nur 33 Jahre –, ganze 77 Alexandrias auf der Welt gegründet, die noch heute seinen Namen tragen, weil mazedonische Handwerksmeister das Geheimnis des Unmöglichen als möglich von Ägypten über Kleinasien nach Baktrien brachten, in das heutige Afghanistan, und weiter nach Persien und Indien, bis es Eingang in die Weltarchitektur fand!
Aber zurück zur Wiege der Welt und ihren wichtigsten Elementen, die Sie, sehr geehrte Gastgeber und Zeugen meines Sturzes, anlässlich dieser liebenswürdigen Verabschiedung meiner Wenigkeit als erste erfahren werden.
Das Achte Weltwunder wird über einem Wald von Marmorsäulen errichtet, 365 an der Zahl und 53,5 Meter hoch, was der Höhe der Gedächtniskirche in Berlin entspricht, von der ich fiel und was ich glücklicherweise überlebte. Da die Anzahl der Tage im Jahr bislang die einzige Zahl ist, über die sich die ganze Welt einig ist, wird das die Basis der Aufteilung, in der sich alle Aspekte historischer, sozialer, ökonomischer, geographischer und politischer Gerechtigkeit wiederfinden werden. Alle Tage gehören allen gleichermaßen: allen anerkannten, bekannten und unbekannten Staaten, Sprachen und Völkern. Montag ist überall Montag. Dienstag ist überall Dienstag. Vom Mittwoch gar nicht zu reden. Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag – fertig. Und nochmals Montag. Die von den Säulen gebildete Wiege der Welt wird vom Flugzeug aus in fünf- bis zehntausend Metern Höhe zu sehen sein. Aus jeder Maschine, die über Europa fliegt. Man wird sogar spezielle Flüge organisieren, um sie zu besichtigen, zum Beispiel von Berlin nach Alexandria, ohne in Mazedonien zwischenlanden zu müssen, wenn man keine Zeit dafür hat. Die Wiege wird ständig schaukeln und damit das einzige Bauwerk in der bekannten Geschichte der Menschheit sein, das ewig in Bewegung ist, denn die Marmorsäulen, über denen die hölzerne Wiege an Stahldrähten im leeren Mittelraum schwebt, sollen im Verhältnis zu den vorherrschenden Luftströmungen stehen und werden ein ständiges Schaukeln des Menschengeschlechts während seines Verweilens auf Erden bewirken.
Noch wichtiger: Alle jetzigen und zukünftigen Staaten, Mitglieder der Vereinten Nationen, wie auch nichtanerkannte, Halb- oder Parastaaten, sogar auch bedrohte Völker – alle außer den schon verschwundenen! –, werden kommen können und an den großen Säulen in allen 6.703 bekannten Sprachen der Welt die Namen von zwei Arten von Kindern mit Hilfe spezialisierter Steinmetzmeister einmeißeln lassen: die Heilandskinder, damit diese sich in dem Volk mehren, und die Mörderkinder, damit es sie nie wieder geben möge.
Zur Illustration: Eine Delegation deutscher Humanisten, der Bundestagspräsident oder der Vertreter einer Region, etwa von Nordrhein-Westfalen, besucht die Wiege der Welt und überbringt folgenden Vorschlag: Goethe, Heine, Büchner und Beethoven sollen in die Marmorsäulen der Heilandskinder eingraviert werden; Hitler, Goebbels und Göring dafür in die Marmorsäulen der Mörderkinder, die große menschliche Katastrophen verursacht haben. Die Meister werden die Namen ins steinerne Weiß eintragen. Alles wird weiß ausgeführt aus dem einfachen Grund, dass in der Weltgeschichte nichts schwarz-weiß ist. Am Anfang ist alles weiß. Nehmen wir die Geburt eines Kindes, das dreißig Jahre später zum Mörder von Millionen wird: Weiß denn die Mutter, dass ihr in weiße Windeln gewickeltes, von der Freude der Nächsten umgebenes Neugeborenes morgen zum Monstrum wird, das Millionen Menschen umbringt und eine ganze Epoche in Trauerschwarz hüllt? Nein, sie kann es nicht wissen! Folglich ist anfangs alles absolut weiß, und nachher wird es absolut schwarz.“
Unser Held huschte durch das Labyrinth seines Gedankens mit solchem Geschick, dass die Anwesenden ihm mit großer Aufmerksamkeit folgten, aber auch mit der Angst, er könne jeden Augenblick über dem feierlich gedeckten Tisch zusammenbrechen. Aber er fuhr fort in dem dringenden Bedürfnis, die Idee des Achten Weltwunders, die von seiner durchgerüttelten Hirnmasse Besitz ergriffen hatte, mit erlesenen Worten möglichst deutlich darzustellen.
„Liebe Kollegen, meine Damen und Herren“, sagte schließlich Alexander Simsar, „ich lenke Ihre Aufmerksamkeit auf die Weihwasserpforte, die am Eingang der Wiege der Welt entstehen wird. Jeder Besucher muss sich nackt oder bekleidet ins Wasser begeben, um sich physisch von seinen Sünden der Vergangenheit und der Zukunft zu reinigen, ebenso von seinen sündhaften Gedanken, damit er geläutert unter die Wiege der Welt gelangt, in der die ungeborenen Kinder des Menschengeschlechts schlafen werden. Hier muss ich einräumen, dass mich der heilige See der Tempelanlage in Karnak beeinflusst hat, ebenso aber das spezifisch Mazedonische daran, zumal der Halbbruder Alexanders, Philipp Arrhidaios, 330 vor Christus den mazedonischen Geist dort in die bauliche Alchemie des Amun-Re-Kultes einführte. Nachdem der Besucher sich gewaschen hat, betritt er den Wald aus weißen Marmorsäulen, und jetzt sieht man, was das Achte Weltwunder bietet: ein Wiegenlied in einer der 6.703 bekannten Sprachen, aus dem Fundus der Völker auf unserer Heimat Erde! Aus dem Klanggedächtnis der Marmorsäulen werden all die himmlischsten Wiegenlieder der Menschheitsgeschichte ertönen. Der Besucher wird das Lied in der Sprache seiner Wahl hören und die Wiege der Welt selbst wird unter dem Sternenhimmel beten. Das ist der Augenblick, in dem die Menschheit nicht nur individuell, sondern auch kollektiv erkennen wird, was sie in diesem Moment am dringendsten braucht: die Entwöhnung vom Hass und den Aufbruch in ein neues Zeitalter, in dem Liebe, Toleranz und gegenseitige Verständigung zwischen den Völkern und den Einzelnen auf Erden herrschen werden! Nach einem einzigen Besuch eines beliebigen Menschen wird sich die Botschaft von der Existenz des Achten Weltwunders verbreiten, von Mund zu Mund, von Mund zu Ohr, von einem Mann zum anderen, von einer Frau zur anderen, von einem Kind zum anderen, so dass jeder – oder fast jeder – Bewohner unserer Erde sich fragen wird, ob er ein erfülltes Leben führen kann, ohne mit eigenen Augen das einzige Bauwerk gesehen zu haben, das jede Geburt auf der Welt feiert und nicht nach Hautfarbe, Religion, Nation, sozialer oder politischer Zugehörigkeit unterscheidet! Die Botschaft von der Wiege der Welt wird in die Seele jedes Einzelnen dringen und die bisher größte Umwälzung in der Geschichte des Menschengeschlechts hervorrufen. Machen Sie sich für große Überraschungen bereit!“
Hier machte Alexander Simsar eine dramatische Pause, die so voller Spannung war, dass seine Frau Cveta beinahe einen Herzschlag bekommen hätte.
„Machen Sie sich bereit“, wiederholte er, und alle Anwesenden im Restaurant wurden ganz Ohr und Auge. Er hatte eindeutig den Eindruck, als würde ihm nicht nur ganz Berlin zuhören, sondern auch ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural sowie ganz Amerika, Asien, Lateinamerika und Afrika.“
Aber was geschah dann, lieber Leser?
Eine mysteriöse weiße Gestalt im weißen Anzug, mit weißen Haaren und schwarzer Brille – wie ein blasser Dracula-Nachkomme –, mit gelbem Rosenkranz in den fahlen Händen, stand vom Tisch in der rechten Ecke des Restaurants auf, an dem er allein gesessen hatte, ging auf die festliche Gesellschaft der Weltbauzeit zu und fragte einen von Simsars Kollegen:
„Wer ist das?“
Der Angesprochene flüsterte ihm ins weiße Ohr:
„Das ist unser Fassadenmeister, der einen schweren Unfall hatte. Er stürzte von der Gedächtniskirche und blieb am Leben!“
Die weiße Gestalt bedankte sich und ging zurück zu ihrem Platz.