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Prosa
Himmel und Erde
Zum Roman „Nebeska Timjanovina“ von Petre M. Andreevski
Als die Mönchsbrüder Kyrill und Method im 9. Jahrhundert dem Slawischen erstmals eine schriftliche Form gaben, orientierten sie sich am Dialekt im Hinterland ihrer Heimatstadt Thessaloniki. Der Norden des heutigen Griechenlands war teils dünn, teils kompakt mit Vorfahren der heutigen Mazedonier und Bulgaren besiedelt. Hier, neben den Angehörigen vieler anderer Volksgruppen, trieben sie Ackerbau und Viehzucht. Es entstanden Städte wie Florina, Edessa und Ioannina. Aber nach der zwangsweisen Hellenisierung des 20. Jahrhunderts sind von der einst großen südslawischen Minderheit heute kaum noch Spuren übrig geblieben.
In dieser historischen Landschaft unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg setzt der Roman Nebeska Timjanovna des mazedonischen Schriftstellers Petre M. Andreevski (1934-2006) ein.
Das zuerst 1988 erschienene Werk beschreibt das Schicksal einer Frau aus Nordgriechenland, die als Angehörige der südslawischen Minderheit und überzeugte Kommunistin am Griechischen Bürgerkrieg (1946-49) teilnimmt und in den Bergen kämpfen und lieben lernt.
Die Protagonistin und Ich-Erzählerin bringt den Assimilierungsdruck der griechischen Behörden sowie die Hoffnungen der slawischen Bevölkerung drastisch deutlich zur Sprache (s. Ausschnitt Teil 1)
Diese selbstbewusste junge Mazedonierin heiratet einen Mitkämpfer und bekommt mit ihm ein Kind, das sie nach militärischen Rückschlägen und dem Tod ihres Mannes in einem Waisenhaus in der jugoslawischen Teilrepublik Mazedonien abgeben muss. Sie kehrt nach Griechenland zurück.
Nach Titos Bruch mit Stalin im Jahr 1948 wird die jugoslawische Grenze für die meist moskautreuen Kommunisten Griechenlands abgeriegelt, sogar für verwundete Kämpfer, so dass viele von ihnen Zuflucht im sozialistischen Albanien suchen.
Der an der Grenze zu Albanien gelegene Berg Grammos ist eine Hochburg der Aufständischen. Die Entscheidungsschlacht, bei der die Streitkräfte der rechtsgerichteten griechischen Regierung unter General Papagos mit angloamerikanischer Unterstützung und Napalm-Luftschlägen die Rebellen der „Demokratischen Armee Griechenlands“ 1949 besiegen, findet an den Hängen des Grammos statt. (Eine Hinterlassenschaft des Bürgerkrieges sind Minenfelder, welche trotz umfangreicher Räumungmaßnahmen bis heute nicht vollständig beseitigt sind.)
In einem albanischen Sammellager wird Nebeska als verdächtiges Element verhaftet – Stalin ist in der Sowjetunion an der Macht und ideologische Verdächtigungen unter Kommunisten gehören zum Alltag – und zusammen mit mehreren mazedonischen Kampfgenossen ins „sozialistische Mutterland“ überführt, wo ihr eine wahre Odyssee durch die Haftanstalten und Arbeitslager bevorsteht.
Im sowjetischen Gefängnis wird sie nicht mit ihrem Nachnamen, Abazovska, sondern mit der typisch russischen Anrede (bestehend aus Vornamen und Vatersnamen) zum Verhör aufgerufen, worüber sie sich anfangs wundert. Nebeskas Vater hieß Timjan, daher wird sie Nebeska Timjanovna genannt. Da die Jahre im sowjetischen Haft einen Schwerpunkt des Romans bilden, erinnert der Titel an diese Erlebnisse.
Nach vielen Erniedrigungen und Entbehrungen wird Nebeska schließlich in die Kasachische Sowjetrepublik verbracht und dort entlassen. In der Stadt Almaty beginnt sie ein trostloses Exilleben. Nach einer mittellosen Zeit findet sie eine Arbeit als Kassiererin in einer Kantine. Dort stellt sie mit Entsetzen fest, dass alle Kolleginnen systematisch klauen. Nebeska hält an ihren Überzeugungen fest: Die Kolleginnen will sie nicht verpetzen, aber sie weigert sich, sich mit ihnen am „Volkseigentum“ zu bedienen. Für ihren aufrechten Gang wird sie eines Nachts fast zu Tode geprügelt.
Einige Jahre nach dem Tod Stalins darf sie Kasachstan und die Sowjetunion verlassen und kehrt auf Umwege nach Mazedonien bzw. Jugoslawien zurück. Am Ende des Romans kann sie ihr Kind wieder in die Arme schließen, aber der Weg, der dorthin führt, ist für sie mit Dornen besät. (S. Ausschnitt Teil 2)
Die Erzählweise des fast 300 Seiten umfassenden Romans ist herzzerreißend nüchtern: man fragt sich, wie ein Mensch so viel Unmenschliches ertragen kann. Vermutlich durch eine starke Überzeugung. Oder durch eine äußerst bescheidene Lebenseinstellung, die sich im schlichten Duktus dieses Werkes wiederspiegelt.
Der Roman basiert auf wahren Begebenheiten – auf biographischen Gesprächen des Autors mit Uranija Jurukova, einer 1926 geborenen kommunistischen Kämpferin aus dem Norden Griechenlands. („Nebeska“ ist eine slawische Form des Namens „Urania“; im klangvollen Namen schwingt auf Mazedonisch der Himmel und Himmlisches, nebo/nebesen, mit.)
Nebeska Timjanovna präsentiert ein Kapitel der Geschichte des 20. Jahrhunderts, das im deutschsprachigen Raum zu Unrecht kaum bekannt ist.
Will Firth, Literaturübersetzer
Zum Roman „Nebeska Timjanovina“ von Petre M. Andreevski
Als die Mönchsbrüder Kyrill und Method im 9. Jahrhundert dem Slawischen erstmals eine schriftliche Form gaben, orientierten sie sich am Dialekt im Hinterland ihrer Heimatstadt Thessaloniki. Der Norden des heutigen Griechenlands war teils dünn, teils kompakt mit Vorfahren der heutigen Mazedonier und Bulgaren besiedelt. Hier, neben den Angehörigen vieler anderer Volksgruppen, trieben sie Ackerbau und Viehzucht. Es entstanden Städte wie Florina, Edessa und Ioannina. Aber nach der zwangsweisen Hellenisierung des 20. Jahrhunderts sind von der einst großen südslawischen Minderheit heute kaum noch Spuren übrig geblieben.
In dieser historischen Landschaft unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg setzt der Roman Nebeska Timjanovna des mazedonischen Schriftstellers Petre M. Andreevski (1934-2006) ein.
Das zuerst 1988 erschienene Werk beschreibt das Schicksal einer Frau aus Nordgriechenland, die als Angehörige der südslawischen Minderheit und überzeugte Kommunistin am Griechischen Bürgerkrieg (1946-49) teilnimmt und in den Bergen kämpfen und lieben lernt.
Die Protagonistin und Ich-Erzählerin bringt den Assimilierungsdruck der griechischen Behörden sowie die Hoffnungen der slawischen Bevölkerung drastisch deutlich zur Sprache (s. Ausschnitt Teil 1)
Diese selbstbewusste junge Mazedonierin heiratet einen Mitkämpfer und bekommt mit ihm ein Kind, das sie nach militärischen Rückschlägen und dem Tod ihres Mannes in einem Waisenhaus in der jugoslawischen Teilrepublik Mazedonien abgeben muss. Sie kehrt nach Griechenland zurück.
Nach Titos Bruch mit Stalin im Jahr 1948 wird die jugoslawische Grenze für die meist moskautreuen Kommunisten Griechenlands abgeriegelt, sogar für verwundete Kämpfer, so dass viele von ihnen Zuflucht im sozialistischen Albanien suchen.
Der an der Grenze zu Albanien gelegene Berg Grammos ist eine Hochburg der Aufständischen. Die Entscheidungsschlacht, bei der die Streitkräfte der rechtsgerichteten griechischen Regierung unter General Papagos mit angloamerikanischer Unterstützung und Napalm-Luftschlägen die Rebellen der „Demokratischen Armee Griechenlands“ 1949 besiegen, findet an den Hängen des Grammos statt. (Eine Hinterlassenschaft des Bürgerkrieges sind Minenfelder, welche trotz umfangreicher Räumungmaßnahmen bis heute nicht vollständig beseitigt sind.)
In einem albanischen Sammellager wird Nebeska als verdächtiges Element verhaftet – Stalin ist in der Sowjetunion an der Macht und ideologische Verdächtigungen unter Kommunisten gehören zum Alltag – und zusammen mit mehreren mazedonischen Kampfgenossen ins „sozialistische Mutterland“ überführt, wo ihr eine wahre Odyssee durch die Haftanstalten und Arbeitslager bevorsteht.
Im sowjetischen Gefängnis wird sie nicht mit ihrem Nachnamen, Abazovska, sondern mit der typisch russischen Anrede (bestehend aus Vornamen und Vatersnamen) zum Verhör aufgerufen, worüber sie sich anfangs wundert. Nebeskas Vater hieß Timjan, daher wird sie Nebeska Timjanovna genannt. Da die Jahre im sowjetischen Haft einen Schwerpunkt des Romans bilden, erinnert der Titel an diese Erlebnisse.
Nach vielen Erniedrigungen und Entbehrungen wird Nebeska schließlich in die Kasachische Sowjetrepublik verbracht und dort entlassen. In der Stadt Almaty beginnt sie ein trostloses Exilleben. Nach einer mittellosen Zeit findet sie eine Arbeit als Kassiererin in einer Kantine. Dort stellt sie mit Entsetzen fest, dass alle Kolleginnen systematisch klauen. Nebeska hält an ihren Überzeugungen fest: Die Kolleginnen will sie nicht verpetzen, aber sie weigert sich, sich mit ihnen am „Volkseigentum“ zu bedienen. Für ihren aufrechten Gang wird sie eines Nachts fast zu Tode geprügelt.
Einige Jahre nach dem Tod Stalins darf sie Kasachstan und die Sowjetunion verlassen und kehrt auf Umwege nach Mazedonien bzw. Jugoslawien zurück. Am Ende des Romans kann sie ihr Kind wieder in die Arme schließen, aber der Weg, der dorthin führt, ist für sie mit Dornen besät. (S. Ausschnitt Teil 2)
Die Erzählweise des fast 300 Seiten umfassenden Romans ist herzzerreißend nüchtern: man fragt sich, wie ein Mensch so viel Unmenschliches ertragen kann. Vermutlich durch eine starke Überzeugung. Oder durch eine äußerst bescheidene Lebenseinstellung, die sich im schlichten Duktus dieses Werkes wiederspiegelt.
Der Roman basiert auf wahren Begebenheiten – auf biographischen Gesprächen des Autors mit Uranija Jurukova, einer 1926 geborenen kommunistischen Kämpferin aus dem Norden Griechenlands. („Nebeska“ ist eine slawische Form des Namens „Urania“; im klangvollen Namen schwingt auf Mazedonisch der Himmel und Himmlisches, nebo/nebesen, mit.)
Nebeska Timjanovna präsentiert ein Kapitel der Geschichte des 20. Jahrhunderts, das im deutschsprachigen Raum zu Unrecht kaum bekannt ist.
Will Firth, Literaturübersetzer