SlovoKult ::
Drama
„Werther&Werther“
Aus dem Makedonischen von Elizabeta Lindner in Zusammenarbeit mit Petra Huber
Personen:
Werther
Lotte
Albert
Wilhelm
Anmerkung der Autorin:
Das Zeichen (/), das in manchen Repliken Verwendung findet, kennzeichnet den Moment, in dem die andere Person mit ihrer Replik beginnt und dabei dem Gesprächspartner ins Wort fällt.
Das Zeichen (-), das zwischen Worten oder Repliken Verwendung findet, kennzeichnet den Moment, in dem der Sprecher seine Gedanken stichwortartig wie bei einem Brainstorming ausspricht.
2004
Sarah Kane gewidmet,
und
all jenen, die mindestens einmal in ihrem Leben ein Manipulationsobjekt waren.
Verbale Explosion
(Theater. Eine Aufführung. Lotte spricht ihren Monolog. In der Hand hält sie eine Pistole.)
Lotte: Stehen – Stunden – Fenster – suchen – Stunden, stundenlang den Sinn durch das Fenster suchen – die Blätter fallen – wachsen wieder – fallen wieder – wachsen wieder – fallen wieder – wachsen – die unheilbare Schönheit der Natur – verderbte Verderberin – verschwendet – spart nicht an Materialien – Fenster – Stunden - Blätter – Natur – jedes Wort will mich verschlingen – toter Verrückter wie lange hast du vor zu stinken – deine Wesenheit – ist die Einsamkeit eines tiefgefrorenen Mammuts in einem unentdeckten Gletscher den niemand je entdecken wird – Menschengenerationen wie Humus – wühle dich durch den Humus nach deinen Vorfahren suchend grabe den ersten aus und spucke ihm ins Gesicht – wie viel Haare Nägel und Scheiße produziert der Mensch im Laufe eines durchschnittlichen Lebens – wieviele Tonnen Nahrung nimmt er zu sich – wie viel Mal vögelt er im Durchschnitt – wie viel Mal lässt er sich fotografieren – warum lässt er sich fotografieren – für ein langes Erinnern und zum noch längeren Gedenken – ein Porträt der Unendlichkeit im Endlichen und der Endlichkeit im Unendlichen – schreibe – schreibe – schreibe – schreibe – schreibe – schrei – be – be – schrei – schr – ei – schr – be – sch – ei – b – r - e – a – rei – be – sch – schreibe aus dir heraus schreibe aus der Leber heraus – schreibe aus dem Herzen heraus schreibe aus dem Bauch heraus schreibe aus den Eiern heraus – warum schreiben – das Schreiben ist das Fotografieren des Verstands – schreiben heißt Fragen beantworten die wir niemals stellen könnten – jede Flut ist eine Überschwemmung – und du Himmel alter Fucker lügst deine Farbe ist Täuschung – ich will hier raus haltet die Zeit an - ein Verrückter hatte sich im Wald erhängt und als ich durch den Wald spazierte stieß ich auf ihn und erkannte mich und so hat mich der Wald geheilt.
(Sie entsichert die Pistole. Hält sie sich an die Schläfe... Ein junger Mann aus dem Publikum – Werther – springt blitzschnell auf die Bühne, packt Lotte mit aller Kraft, presst sie kräftig an sich, so dass sie sich nicht bewegen kann, küsst wild ihr Gesicht und ihr Haar. Lotte wehrt sich und versucht, sich aus seiner Umarmung zu befreien; beide fallen zu Boden und wälzen sich.)
Lotte: Lass mich los, lass mich los, lass mich los...
(Werther hört nicht auf, sie zu küssen.)
Lotte: Lass das, lass das, lass das...
(Auf die Bühne kommt Albert gerannt und packt Werther an der Schulter. Dieser reißt sich los und wirft sich abermals auf Lotte und küsst sie. Albert packt ihn mit beiden Händen und zieht ihn mit aller Kraft zur Seite, aber Werther versucht unablässig, sich loszureißen.)
Albert: Vorhang bitte, lasst den Vorgang runter! Vorhang, bitte! Inspizient! Vorhang!
Der erste Schritt muss von dir kommen
(Werthers Zimmer. Albert steht, hält einen Teller Suppe in der Hand, die so heiß ist, dass man den aufsteigenden Dampf deutlich sieht. Werther starrt ausdruckslos auf einen Punkt; er beachtet Albert überhaupt nicht, als sei dieser gar nicht im Zimmer.)
Albert: Es ist an der Zeit... So geht es nicht mehr weiter... Draußen scheint die Sonne. Du brauchst frische Luft, auch Licht brauchst du... Mach zumindest das Fenster auf. Lüfte mal durch... Der erste Schritt muss von dir kommen. Wir alle lieben dich. Niemand verlangt etwas von dir. Aber, bitte, mach endlich einen Schritt... Wenn deine Akkus leer sind, lade sie wieder auf! Betrink dich. Bekiff dich. Fahr weg... Egal was, aber um Gottes Willen mach irgendwas... Soll ich die Rollos hoch ziehen?... Soll ich die Rollos hoch ziehen?... Soll ich dir etwas zum Essen bringen?... Ich hab dir Hühnersuppe gebracht... Soll ich dir beim Umziehen helfen?... Du solltest wenigstens diese Lumpen, die du auf dem Leib trägst, wechseln. Du stinkst... Ich weiß nicht mehr... Die Leute fragen nach dir. Sie lassen dich grüßen. Sie wollen dich sehen... Warum Werther?...Warum all das? Warum jetzt, wo es für dich ganz gut angelaufen ist? Sag was. Schlag mich. Zeig mir, dass du mich hasst. (Plötzlich schmeißt er genervt den Teller mit der heißen Suppe gegen die Wand; der Teller schlägt laut auf und zerbricht, die Suppe läuft an der Wand hinunter; Werther verharrt in derselben Position, zuckt nicht einmal mit der Wimper .)
Fülle dich mit etwas, du verfickter Dreckskerl. Ich werde dir die Birne einschlagen und sogar den letzten Gedanken aus deinem ausgebrannten Gehirn rausholen. Du bist so pathetisch. Du ekelst mich an. Du ekelst alle an. Sie fragen aus Neugier nach dir und nicht aus Mitleid. Eigentlich sind sie schadenfroh. Sie lachen dich aus. Sie werden den Tag, an dem du für immer verschwinden wirst, einfach auslöschen. Und keiner wird sich mehr an dich erinnern. Keiner wird dich suchen. Du wirst verschwunden sein, als ob es dich nie gegeben hätte. Du verschwindest bereits. Du verlierst dich. Verschwindest. Verschwindest. Du bist nicht mehr da. Sprich! Sprich! Sprich mit mir!
(Albert geht auf Werther zu, packt ihn grob an den Schultern, stellt ihn aufrecht hin und gibt ihm eine Ohrfeige. Von der Wucht des Schlages geht Werther zu Boden; steht wieder auf; Albert schlägt ihn erneut; sie blicken einander lange in die Augen; nach einer längeren Pause spuckt Werther Albert ins Gesicht.)
Albert: Gott sei Dank!
Abschiednehmen vor der Reise
(Das Theater. Lottes Garderobe. Lotte ungeschminkt und nicht kostümiert; jetzt trägt sie ihre „Privatkleidung“. Werther steht hinter ihr.)
Lotte: Tausend Mal habe ich dir doch gesagt, dass du nicht einfach hierher kommen kannst!
Werther: Ich wollte / nur...
Lotte: Du hast versprochen, Werther, dass du nicht mehr hierher kommen wirst!
Werther: Ja, aber / heute...
Lotte: Du hältst dein Versprechen nicht, Werther.
Werther: Ich wollte mich nur verabschieden...
Lotte: Du könntest dich telefonisch, per Postkarte, per E-Mail, per Brieftaube, telepathisch, / im Traum verabschieden...
Werther: Ich gehe für lange Zeit weg...
Lotte: Du musst die Dinge angehen. Jeder hat seine eigenen Pflichten, Sorgen, Probleme, Wünsche. Ich trage keine Verantwortung für dich. Ich will, dass wir Freunde bleiben. Aber du kannst nicht jeden Tag bei mir herumhängen! Jeden Tag...
Werther: Ich gehe.
Lotte: Alles Gute!...
(Werther rührt sich nicht vom Fleck. Lotte wartet darauf, dass er geht.)
Lotte: So!... Alles Gute!... Ich sagte alles Gute! Gute Reise!... Alles Gute!...
(Pause. Sie sehen sich an.)
Lotte: Wirst du dich nicht verspäten?
Werther: Es ist noch Zeit.
(Lange Pause.)
Lotte: Und?... Wann fährst du?
Werther: Um Viertel vor drei, die Zeit ist gestern um Viertel vor drei gestorben, eine große Welle packte sie am Sandstrand und zog sie ins tiefe blaue Meer, zehntausend Meilen unter dem Meer, und ihre Mutter, die Geschichte, weint ihr nach, die Titelseiten der Zeitschriften in Flammen eingefroren, der Pöbel feiert und tanzt auf den Straßen, die Minuten tanzen mit den Stunden, die Stunden mit den Tagen, die Tage mit den Monaten, die Monate mit den Jahren, die Jahre mit mir, die Zeit ist gestern um Viertel vor Drei / gestorben...
Lotte: Das muss tatsächlich das letzte Mal sein.
Werther: Ja, das letzte.
(Pause. Er sieht sie an. Sie kämmt sich, ignoriert ihn.)
Lotte: Geh raus. Ich muss mich umziehen.
Werther: Es wird schneien.
Lotte: Ja. Mitten im September.
Werther: Ist es immer noch September?
Lotte: Die zweite Hälfte...
Werther: In ein paar Tagen ist es August und dann kommt der Schnee.
Lotte: Da kann es höchstens regnen.
Werther: Fein.
Lotte: Was ist fein?
Werther: Unser Gespräch entwickelt sich fein.
Lotte: Ich bin müde und ich würde / gerne...
Werther: Lass uns bitte dieses brillante Gespräch zu Ende führen. Wir müssen uns darüber einigen, ob es regnet oder schneit, wir können nicht / einfach so...
Lotte: Ich rufe den Wachmann.
Werther: Sehr gut. Vielleicht kann er uns bei der Frage von Regen oder Schnee helfen.
Lotte: Stelle dich nicht dümmer als du bist, / Werther.
Werther: Frag mich wenigstens, wie es mir geht, bevor ich gehe!
Lotte: Allmählich verstehe ich gar nichts mehr.
Werther: Frag mich oder / ich werde...
Lotte: Hör auf!...
Werther: (schreit) Frag / mich!...
Lotte: Schrei nicht so!
Werther: (schreit) Frag / mich!...
Lotte: (schreit) Leise!!!
Werther: (schreit laut, aus vollem Halse) Frag mich...
Lotte: (schreit) Leise!!!
Werther: (schreit noch lauter) Frag / mich...
Lotte: Wie geht es dir?
Werther: Fragst du nur pro forma, oder interessiert es dich wirklich? Die Leute fragen das normalerweise pro forma. „Guten Morgen. Wie geht es Ihnen? Guten Tag. Wie geht es Ihnen? Guten Abend. Wie geht es Ihnen? Guten Morgen. Wie geht es Ihnen? Guten Tag. Wie geht es Ihnen? Guten Abend. Wie geht es Ihnen? Guten Morgen. Wie geht es Ihnen? Und so weiter und so fort. Wenn es dich wirklich interessiert, frag mich noch mal.
Lotte: Wie geht es dir?
Werther: Noch mal.
Lotte: Wie geht es dir?
Werther: Noch mal.
Lotte: (schreit) Wie geht es dir?
Werther: Hoch über der tiefen Dunkelheit meines Waldes steht die helle Sonne und nur einzelne Strahlen dringen hinein.
Lotte: Es läuft gut für dich...
Werther: Das ist mir nicht aufgefallen.
Lotte: Sei vernünftig, Werther. Nutze das, was dir, und keinem anderen auf dieser Welt gegeben ist. Beherrsche dich. Ist dir denn nicht klar, dass du dich selbst zerstörst? Halte deine Gedanken an, Werther! Zumindest für einen Augenblick. Sieh dich um, wo du warst und wo du jetzt bist. Denk daran, was du alles aus dir machen kannst. Alles steht dir offen, alles ist dir gegeben. Du musst den Schmerz loswerden, der dich auffrisst.
Werther: Der Schmerz ist die Wahrheit. Derjenige, der diesen/ Schmerz empfunden hat, ist der Wahrheit näher.
Lotte: Suche dir ein passendes Objekt der Liebe...
Werther: Objekt der Liebe? Ich soll mir ein passendes Objekt der Liebe suchen? Mein Objekt der Liebe. Wo ist mein Objekt der Liebe?... (Blitzschnell nimmt er ihr den Kamm aus der Hand.) Mein Objekt der Liebe! (Küsst den Kamm leidenschaftlich.) Ah du, mein Objekt der Liebe...
Lotte: Hör endlich auf!
Werther: Du sagtest, ich solle mir ein Objekt der Liebe suchen und siehe da, ich hab es / gefunden...
Lotte: Hör auf!!!
Werther: Du hast es gesagt!...
Lotte: Du weißt genau, was ich / gemeint habe.
Werther: Ich hab dich aber so / verstanden.
Lotte: Es reicht!!! Es reicht!!! Es reicht!!!
Werther: Schade. Echt schade.
Lotte: Ja, schade...
Werther: Auf dieser Welt ist es so schwer, einander zu verstehen..
Lotte: Bitte geh raus! Ich muss mich umziehen.
(Lange Pause.)
Lotte: Warum stehst du immer noch hier rum? Geh! Du wirst dich verspäten.
Werther: Ich reise ab, wann ich will.
Lotte: Ich habe dir gesagt, dass du nicht mehr hierher kommen sollst. Du hast es versprochen, Werther! (sie will gehen.)
Werther: Lotte!...(sie dreht sich um.) Ich wollte mich nur verabschieden.
Lotte: Gute Reise, Werther! (sehr grob reißt sie ihm den Kamm aus der Hand. Geht hinaus.)
Der Schutzengel in der U-Bahn
(Eine U-Bahn Station. Wilhelm in alter Kleidung – er sieht wie ein Penner aus. Werther bemerkt ihn und dreht ihm den Rücken zu, um nicht erkannt zu werden. Wilhelm geht zu ihm. Werther versucht, ihm auszuweichen. Wilhelm bleibt hartnäckig.)
Wilhelm: Werther... Werther...
(Werther beachtet ihn weiterhin nicht.)
Wilhelm: Es ist immer so, mein Lieber. Du gehst und gehst und dann kommst du an einen Punkt. Du glaubst, du wärst irgendwo angekommen, aber du bist an einen Punkt / gekommen...
Werther: Und wo bist du angekommen?
Wilhelm: Na, auch genau da, an einem Punkt.
Werther: Von so vielen Leuten in der Stadt musste ich ausgerechnet dich treffen. Merkwürdig. Wirklich sehr merkwürdig.
Wilhelm: Tja, so merkwürdig ist es auch wieder nicht. Es liegt an diesem Ort! Kein Ort ist so frequentiert wie die U-Bahn. Das war schon immer so und wird auch in Zukunft so bleiben. Solange es U-Bahnen gibt. Die einen kommen, die anderen gehen. Genau wie im Leben... Gehst du nach Hause?... Hm? Warmes Zimmerchen, warmes Bettchen, warmes Wässerchen...Hm?... Bis zur nächsten Station kannst du auch zu fuß gehen. Draußen scheint die Sonne. Ein schöner Tag. Wie für einen Spaziergang gemacht.
Werther: Ich fahre aber weiter weg.
Wilhelm: Ach, ja?
Werther: Ja.
Wilhelm: Du verreist also.
Werther: Na, ganz offensichtlich bin ich nicht zum Erdbeerpflücken hier in der U-Bahn.
Wilhelm: Die Ferne ist wie die Zukunft. Man kann sie auch mit dem Zug erreichen.
Werther: Soweit ich mich erinnern kann, hasst du U-Bahnstationen. Was machst du dann hier?
Wilhelm: Ich sonne mich.
Werther: Pass auf, nicht dass du dich verbrennst.
Wilhelm: Nein, nein, keine Sorge. Ich bin geschützt. Mit einem besonderen Schutzfaktor! Einem unterirdischen...
Werther: Sehr witzig. Ich platz gleich vor lauter Lachen. Ha, ha, ha...
Wilhelm: Und wohin fährst du, wenn ich fragen / darf?...
Werther: Unter den Zug.
Wilhelm: Auf den Zug.
Werther: UNTER den Zug.
Wilhelm: Ach so.
Werther: Ja, genau so. Falls es dich interessiert.
Wilhelm: Und wann kommst du zurück?
Werther: Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, Alter, das geht dich nichts an.
Wilhelm: Wenn jemand verreist, kehrt er normalerweise auch zurück ...Ich glaube, die Frage ist nur logisch.
Werther: Glaubst du, ich habe es nicht bemerkt? Du folgst mir schon seit einer Stunde.
Wilhelm: Tatsächlich?
Werther: Warum machst du das?
Wilhelm: Es ist einfach nicht fair.
Werther: Natürlich ist es nicht fair.
Wilhelm: Ich meine, es ist nicht fair, dass du all diese Leute hier störst.
Werther: Wenn jemand jemanden stört, dann bist du es, der mich stört.
Wilhelm: Sieh dir diesen jungen Mann da an. Siehst du ihn? Sieh ihn dir gut an. Frisch rasiert, herausgeputzt, parfümiert, geschminkt. Er ist auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch. Vielleicht wird es ihm gerade heute gelingen, eine Anstellung zu bekommen.
Werther: Lass mich in Ruhe, / Mann.
Wilhelm: Er weiß genau, was er will. Er will beim Gespräch brillieren und diese verfickte Anstellung kriegen. Sobald er die Anstellung hat, wird er eine Wohnung kaufen. Sobald er die Wohnung gekauft hat, wird er heiraten. Sobald er geheiratet hat, wird er eine Familie gründen und so weiter. Eltern sehen ihre eigenen Kinder nie als potenzielle Steuerzahler. Nie. Kinder sind...
Werther: Eine Fotze und ein Schwanz ficken.
Wilhelm: Genauso ist es! Genauso. Jeder Mensch ist das Ergebnis eines Ficks. Ich, du, er, alle. Sieh! Überall um uns herum nur Ficks. Egal wo du hinguckst, überall nur Ergebnisse von Ficks. Der junge Mann erholt sich endlich von diesem erschöpfenden, aber verlangenden, alles übertreffenden Akt seiner Eltern, die mit Hingabe und Schweiß dem brennenden Wunsch folgen, einen weiteren Steuerzahler in die Welt zu setzen. Und da ist er. Es läuft gut bei ihm. Er steht schon fest auf eigenen Beinen, die Tür öffnet sich für ihn, einzig du stehst ihm im Weg.
Werther: Wer sollte ihm überhaupt im Weg / stehen...
Wilhelm: Du, du stehst ihm im Weg. Bis sie dich vom Boden kratzen, bis sie die Flecken weggeputzt und wieder Farbe aufgetragen haben, wird die U-Bahn eineinhalb Stunden gesperrt bleiben. Und in diesen eineinhalb Stunden wird der Termin für sein Vorstellungsgespräch passé sein. Glaubst du, das ist in Ordnung? Sieh ihn dir an. Du solltest ein wenig an ihn denken. Denk darüber nach, was du überhaupt machst?
Werther: Ich mache, was ich will...
Wilhelm: Hör auf damit. Denk an das, was am wichtigsten ist.
Werther: Woher willst du denn wissen, was am wichtigsten ist?
Wilhelm: Am wichtigsten ist das, was eben am wichtigsten ist.
Werther: Und was ist, wenn es das Wichtigste für einen nicht gibt?
Wilhelm: Wenn du das nicht hast, dann hast du es halt nicht. Dann ist deine Last kleiner. Andererseits bist du ohnehin ehrlich gesagt, nur lauwarm und brennst für gar nichts; aber egal, ob du brennst oder nicht, die Tage gehen vorbei. (Holt eine kleine Flasche aus der Tasche). Willst du einen kleinen Schnaps?
Werther: Nein, danke!
Wilhelm: Komm, zieh dir ein bisschen was rein, du hast kein Feuer in dir.
Werther: Ich saufe nicht auf der Straße. Geh!
Wilhelm: Egal, ob du auf der Straße säufst oder nicht, am Ende wird alles auf dieser Welt unwichtig sein. (Nimmt einen Schluck aus der Flasche).
Werther: Ein Hoch auf den Philosophen, wie tiefschürfend oberflächlich.
Wilhelm: Du meinst lehrreich.
Werther: Ja, lehrreich.
Wilhelm: Na dann, wähle die richtigen Worte, mein lieber Schriftsteller. Mit den Worten bezeichnen wir die Dinge, und wenn du sie nicht benennen kannst, existieren diese Dinge für dich nicht. Die Worte sind der Beweis für unsere Erkenntnis. So viele Worte man hat, so viele Dinge kennt man. Das ist genau dein Problem, Werther. Du kennst das Wort nicht, das dich bezeichnet. Du kennst dich nicht. Finde dieses Wort. Wenn du es gefunden hast, wird es dir alles sagen und wird dich führen.
Werther: Und was ist dein Wort, Wilhelm?
Wilhelm: Mein Wort ist mein/...
Werther: Du versteckst dich vor der Welt.
Wilhelm: Meine Welt braucht diese Welt nicht.
Werther: Du verschließt die Augen vor der Realität.
Wilhelm: Weil es eine Realität höherer Ordnung gibt.
Werther: Und genau diese Realität ist die deine.
Wilhelm: Kämpfe für sie, wenn du dazu in der Lage bist.
Werther: Flucht, es ist nur Flucht und nichts weiter.
Wilhelm: Sei mutig, Werther, ergreif auch du die Flucht.
Werther: Angsthase, Kleinmütiger, Schwächling, / Klugscheißer
Werther: Nur ein Wort Werther, nur ein Wort ist das richtige.
(In der Ferne hört man den Zug. Werther tritt an den Rand des Bahnsteigs, an dem die U-Bahn einfahren wird.)
Wilhelm: Bleib stehen!
Werther: (für sich) Nein, nein, ich werde nicht mehr denken. / Nein!
(Wilhelm geht zu ihm.)
Werther: Halt! Keinen Schritt / weiter!...
(Wilhelm bleibt stehen.)
Wilhelm: Sieh ihn dir / an.
Werther: Ich werde dich, ihn und mich vor den Zug werfen, wenn du auch nur einen einzigen Schritt / machst...
Wilhelm: Eineinhalb Stunden Werther, eineinhalb Stunden...
Werther: Rühr dich nicht vom Fleck!
Wilhelm: Es ist nicht / fair.
Werther: Es gibt kein Zurück, nein, nein, nein, nein...
(Werther schließt die Augen; er steht am Rande des Bahnsteigs, an dem der Zug jeden Augenblick einfahren wird, bereit sich unter den Zug zu werfen; man hört, wie der Zug näher kommt.)
Wilhelm: Werther!...Ich habe sie getroffen...
(Werther öffnet die Augen.)
Wilhelm: ...sie sagte, dass...
(Der Zug kommt. Hält. Man hört die Lautsprecherdurchsage, die den Zug ankündigt.)
Werther: Was sagte sie?
Wilhelm: Wer?
Werther: Du sagtest: „ Ich habe sie getroffen und sie sagte...“
(Die Passagiere steigen in den Zug ein. Der Zug fährt los. Wilhelm singt.)
Wilhelm: “Time stands still with gazing on her face,
Stand still and gaze for minutes, hours and years, to her give place:
All other things shall change, but shee remaines the same,
Till heavens changed have their course & time hath lost his name…”
“In darknesse let mi dwell, the ground shall sorrow be
The roofe Dispaire to barre all cheerfull light from mee,
The wals of marble blacke that moistned still shall weepe,
My musicke hellish jarring sounds to banish friendly sleepe.
Thus wedded to my woes, and bedded to my Tombe,
O Let me living die, till death doe come.”
Wilhelm: Ein schönes Liedchen, nicht wahr?... (Jemand wirft ihm von der Seite eine Münze zu, Wilhelm hebt sie vom Boden auf und steckt sie in die Tasche) Und obendrein lohnt es sich. Böse Menschen kennen keine Lieder. Ach, ja! Ich wollte dir sagen, dass ich diese Ente mit dem gebrochenen Flügel wieder getroffen habe. Erinnerst du dich? Die Ente, die wir letzten Winter gefüttert haben. Elfriede? Unsere Elfriede. Ich hab sie wiedergetroffen und sie sagte „Ga ga ga ga...“ Das wollte ich dir sagen. Und?... Wie geht es dir?... Eine ganz kurze Reise... Weißt du, dass der junge Mann in die U-Bahn eingestiegen ist? Heute ist sein Tag. Sicher!... (Pause.) Keine Sorge. Du musst nicht lange warten. In drei Minuten kommt der nächste Zug. Du hast nichts verloren. Der Fahrplan ist immer der gleiche, regelmäßig und pünktlich wie eine Schweizer Uhr. Das ist richtiger Luxus – nicht nur den Tag, nicht nur die Stunde, sogar die Sekunde kannst du nach Wunsch bestimmen, in der du abreisen möchtest. Wähle in Ruhe aus. Der Rest geht ganz automatisch. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen...Aber, du weißt, wie man sagt, Besser zweimal gemessen als einmal verschnitten... Gute Reise und pass auf dich auf, Werther.
___________________________________________________