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Prosa
Dimitar Solev "Verrückter Sommer" (Erzählung)
Aus dem Makedonischen von Benjamin Langer
Wann auch immer sie aufwachte, das erste, was Veti sah, war – das Fenster. Von der ganzen Welt, vom ganzen Traum, vom ganzen Tag – zuerst das Fenster; eine Öffnung, von der aus die Welt begann, ein Widerstand, mit dem der Traum endete. Tags oder nachts, Vetis Fenster war immer heller als alles andere um sie herum.
Jeden Morgen, wenn sie die Augenlider voneinander löste, sah Veti es genau ihrem Bett gegenüber, ohne ihren Kopf auch nur vom Kissen heben zu müssen. Das Fenster hatte schon klares Weiß auf seinen weit geöffneten Augen. Der durchsichtige Vorhang, der sich wie ein Spinnennetz im Lufthauch wiegte, trübte durch nichts seine reine Tagesweiße. Und das erste, was Veti tat, war, zum Fenster zu gehen und in ihm, als ob es Wasser wäre, ihre noch trüben Augen zu waschen.
Den Vorhang an ihre Brust pressend, beugte sich Veti vor und blickte nach unten. Blickt man nicht so in die Wellen, wenn man mit einem Schiff reist? Aber unter dem Fenster floss kein Wasser, sogar die Regenrinne war trocken. Nur die Erde auf dem Bürgersteig wurde immer glatter getreten und ersetzte den Asphaltweg für Kinderspiele. Auf dem Bürgersteig fielen die Schatten der Akazien zu unterschiedlichen Tageszeiten auf unterschiedliche Orte – wie Pfützen, die der Wind hier austrocknet und der Regen dort erweitert. Für die Kinder, die auf der festgetrampelten Erde des Bürgersteigs spielten, hatten die Schatten nur einen Zweck: ihnen durch den Lärm des Spiels einzuflüstern, wann sie hungrig waren, wann ihnen kalt war, wann sie schläfrig wurden. Sonst summten die Kronen der Akazien von ihrem Geschrei wie von Wespen umlagerte Trauben.
Von außen betrachtet, glich Veti am Fenster einem Mädchen, dem von unten der Freund zupfeift. Ihre nackten Schultern mit dem in der einen Hand zusammengepressten Vorhang bedeckend, ordnete Veti mit der anderen Hand ihr Haar und drehte ihren Kopf langsam die gesamte Länge der Straße entlang. Ihre noch trüben Augen blinzelten, ihre weichen Lippen waren halb geöffnet, und aus dem ganzen Fenster trat die vermenschlichte Wärme des Schlafes hervor. Jeden Moment konnte wie eine geheime Fortsetzung des Traums ein Lächeln auf Vetis Gesicht treten.
Links auf der Straße, die scheinbar am Fuß des Vodnos versiegte, konnte Niko erscheinen – mit einem Pfiff auf den Lippen, mit der Hand an der Klingel des Fahrrads, mit einem verschämten, verlegenen, aber neugierigen Blick zu ihrem Fenster. Rechts auf der Straße, die unter der Doppelreihe der Akazien scheinbar in den Park mündete, konnte Igor erscheinen – mit einem Pfiff auf den Lippen, ohne die Hände am Lenker des Fahrrads, mit einem offenen, gleichgültigen, aber hartnäckigen Blick zu ihrem Fenster. Sie kamen mit dem gleichen Pfiff unter ihr Fenster und Veti teilte ihnen das gleiche Lächeln zu. Niko und Igor waren Freunde, und Veti wiederum war ihre Freundin.
Besser gesagt waren zuerst Niko und Igor Freunde gewesen, und Veti hatte sich ihnen viel später angeschlossen. Zuerst waren Niko und Igor klein und spielten unter dem Fenster, das noch nicht ihres war: Sie rollten Murmeln, stießen einen Ball vor sich her, warfen Steine, ließen Flugzeuge steigen, gingen auf den Händen vom Straßenrand bis zu den Zäunen der Höfe, während Veti in dieser Zeit seilsprang, Bildchen in alte Hefte klebte, den Puppen Hauben aufband und in wahrhaftige Tränen ausbrach, wenn eines der männlichen Kinder sie schubste. Damals waren sie nicht nur keine Freunde, sondern sogar Feinde. Als sie dann aufwuchsen und die Spiele änderten, als sie eingeschult wurden und man sie in den Schulbänken nach Jungen und Mädchen trennte, schlossen sie wieder keine Freundschaft – weil zwischen ihnen ein neuer Feind erschien, ein Feind sowohl für die einen als auch für die anderen, die Scham. Damals vermieden sie, sich einander anzunähern, sie spielten überhaupt nicht miteinander, ja sie grüßten einander nicht einmal, wenn sie sich irgendwo begegneten, auf dem Schulhof, in ihrer Straße oder in irgendeinem Haus. Erst als sie ins Gymnasium eintraten und ein neues Spiel begannen, das Gespräch, erst dann näherten sie sich wieder einander an, und diese Annäherung war so, als wären ihr die Kinderspiele nicht vorausgegangen. Von allen Kindern in der Straße kamen sich erst Niko und Igor näher, und dann die beiden mit Veti, aber dieses Sich-Näherkommen hatte schon nichts mehr mit der gemeinsamen Kindheit in derselben Straße zu tun, weil Igor ein paar Sträßchen weiter weg gezogen war und Veti sich auch mit Jungen aus einer anderen Gegend der Stadt hätte treffen können. Aber Veti wählte sie aus, Niko und Igor, weil es für sie außergewöhnlich war, sich mit zwei Freunden zu treffen.
In dem Frühling, in dem sie die fünfte Klasse beendeten und sich auf die Fachschulen verteilen konnten, standen sie nachts unter den Akazien und sprachen über ihre Pläne – sie galten endgültig nicht mehr als Kinder. Niko und Igor begleiteten Veti normalerweise nach Hause und verweilten lange unter ihrem Fenster. Ihre Mutter erschien hinter dem Vorhang, rief sie zum Abendessen und später zum Schlafengehen. Veti antwortete ihr immer, dass sie sofort nach Hause komme, aber blieb dennoch unter der Akazie und zupfte an deren gesprungenen Rinde. Niko und Igor hielten sie nicht zurück; sie gingen einfach nicht, hielten sich standhaft am Stamm der Akazie fest und weckten neue Gesprächsthemen. Die Fenster der Häuser erloschen eins nach dem anderen, in den Akazienkronen erwachte der Nachtwind, die Schultern erschauerten taub und man verspürte das Bedürfnis, sich selbst zu umarmen.
Veti wusste nicht, ob sie wollte, dass einer von beiden, Igor oder Niko, sie umarmte, um ihr den Rücken zu wärmen, aber sie wusste, dass dies nicht gleichzeitig mit beiden geschehen konnte. Und genau dies, dass sie gleich nah und gleich entfernt zwischen den beiden stand, war für sie am interessantesten: Wenn sie zuließ, dass sie dem einen näher kam, würde sich der andere unwiederbringlich verlieren, und das war schon ein Spiel, das in Tränen enden konnte. Veti ahnte, dass auch die beiden das wussten, und so hielten sie sich gemäß einer stillschweigenden, wenn auch nicht lange anhaltenden Vereinbarung in einem augenscheinlich festen, aber in Wirklichkeit zerbrechlichen Dreieck, einander belauernd, damit keiner die unausgesprochenen Spielregeln brach.
Dann, als sie sich in die sechste Klasse des Gymnasiums einschrieben, waren sie den ganzen Sommer über unzertrennlich: Jeden Tag gingen sie an den Strand; ihre Eltern hatten sie nicht in den Sommerurlaub schicken können, ließen sie nun aber deshalb frei, als ob sie im Sommerurlaub wären. Sie konnten sich den ganzen Tag am Vardar aufhalten, oder in Saraj, oder in Matka, oder auf dem Vodno – es schien ihnen, als liege die Freiheit im Raum, und je weiter sie sich von zu Hause entfernten, desto näher kämen sie ihr. Igor und Niko nahmen die Fahrräder ihrer Väter, pfiffen unter Vetis Fenster im Duett nach ihr, Veti erschien mit einem fertigen Lächeln hinter dem Vorhang und kam sofort danach mit einem Täschchen mit dem Badeanzug und anderen Kleinigkeiten auf den Hof. Niemand rief ihnen hinterher, wann sie zurückkommen sollten. Hinwärts fuhr Niko sie, zurück Igor – Veti schlenkerte mit den Beinen, bewegte den Lenker, dämpfte die Klingel. Außerhalb der Stadt fielen sie manchmal vom Fahrrad und betrachteten einander die staubbedeckten Wunden, stießen mit grinsenden Gesichtern zusammen, verbogen sich vor wahnsinnigem Lachen und stiegen dann wieder aufs Fahrrad, das eine trunkene Sinuskurve auf die staubbedeckte Straße prägte.
Das war ein verrückter Sommer, der Sommer des Jahres ’46. Am Vardar bewegten sich wie auf einem Leimband für Fliegen die barhäutigen Skopjer, von Bel Kamen bis zur Insel beim Flugplatz. Die Straßen waren mittags leergefegt wie unter dem Mond, unter der Rinde der Bäume hobelten fühllos die schwarzen Zikaden, die Vorhänge in den Fenstern waren unbewegt wie Mückennetze. Nur aus irgendeinem zu lauten Radio drang mit unverhoffter Unermüdlichkeit die grelle Kegeloboe eines Volkstanzes. Es schien einem, dass die Stadt evakuiert worden war, aber nur solange man sich nicht den mürben Ufern des geschrumpften Vardars näherte.
Und der Atem des Vardars war wirklich versiegt – seine neuen Ufer, bereits in das Flussbett eingetreten, ähnelten kleinen Wüsteneien von kürzlich erfolgten Überschwemmungen. Die Leute gingen immer weiter flussaufwärts, in der Hoffnung, zu mehr Wasser zu gelangen. Aber der Fluss war nirgendwo höher als eine menschliche Gestalt, obwohl der Lärm der Strände jeden Scheitel überflutete. Die Strände waren von weitem an den Wespennestern des Geschreis zu erkennen.
Veti, Igor und Niko fuhren immer weiter am Fluss entlang – vom Russischen Strand über Gjorče Petrov bis Bel Kamen. Dort an der Mündung der Treska in den Vardar ließen sie sich schließlich nieder. Sie begannen, regelmäßig zu kommen; nicht deshalb, weil das Wasser tiefer war, sondern weil die Strömung ihrer Stimmung entsprach.
Sie legten ihre Fahrräder in die Gärten, ließen ihre Kleider auf den Fahrrädern, klemmten eine Melone unter den Steinen fest – und die Erde konnte sich bis zum Untergang der Sonne drehen. Die Strömung verlangte nichts anderes, als dass man sich in sie warf, der Sand verlangte nichts anderes, als dass man sich in ihm schmutzig machte. Erst in der Dämmerung begann der Fluss, nach aufgeschnittener Wassermelone zu duften.
Für Veti war es zwischen Niko und Igor wunderbar. Sie kümmerten sich um sie wie um eine spät gefundene Schwester, umkreisten sie mit einer Aufmerksamkeit, die scheinbar keine Ermüdung kannte, und erfüllten ihr jeden Wunsch. Sie wetteiferten nicht nur darin miteinander, wer ihn ihr zuerst erfüllte, sondern auch darin, wer ihn zuerst erriet. Veti wusste nicht, wem sie zuerst zulächeln sollte, so sehr musste alles geteilt werden. Und dennoch schien dieser verrückte Sommer genau deshalb so verrückt zu sein, weil sich das Ende des Sommers näherte. Auf dem Rücken schwimmend konnte man sehen, wie sich in den Baumkronen wie im Haar des Geliebten die ersten herbstlichen Blätter absonderten, die ersten Kommata der Reife. War er etwa so schön, dass er nicht mehr länger andauern konnte? Über den Körper liefen dann Schauer, aber nicht Schauer vor Wonne, sondern Schauer angesichts der Wonne.
Veti empfand das auch, wenn sie mit einem der beiden alleine blieb. Im Sand ausgestreckt spürte sie dann in seinem Blick eine unerwartete Elektrizität wie einen Blitzschlag. Obwohl der Blick milder werden konnte, empfand sie seine Berührungen wie Stiche. Ihre Haut erschauerte wie Wasser unter dem Wind, die Sandkörnchen und die gesträubten Härchen waren gleich hart. Veti schien es dann, dass sein Blick alle angewachsenen und übergezogenen, verhärteten Schutzschalen von ihr abstreifte wie von einer reifen Kastanie auf der Handfläche.
Das konnte sowohl Niko als auch Igor sein. Veti wusste nicht, von wem sie es zuerst erwarten konnte, aber es passierte mit beiden, wenn sie mit ihr alleine blieben. Veti fühlte sich dann hilflos wie eine Schnecke, die aus ihrem Häuschen gelockt worden ist. Sie sprang aus dem Sand auf und warf sich in den Fluss, zerriss das Spinnennetz, das gefährlich zwischen ihnen beiden gewoben wurde, egal ob es Igor oder Niko war. Sie wollte nicht auswählen, sie wollte mit keiner Auswahl konfrontiert werden. Sie wollte beide behalten, wenn auch nur für gnadenlos kurze Zeit, weil es ihr schien, dass sie auch jenes kaum zu Fassende verlieren würde, das sie mit beiden hatte, wenn sie den einen erwählen würde.
In solchen Momenten, wenn sie sich diesem Rand näherte, während der Blick in die unerwartete Leere das Gleichgewicht in Schwindelgefühl verkehrte, hatte Veti nur einen Gedanken im Sinn: dass es keiner von beiden sein sollte, weder Igor noch Niko. Der Erwählte, jener fürs Leben, jener, mit dem sie die unbekannte Zukunft verbinden würde, sollte ein gänzlich Dritter und nach Möglichkeit Niko und Igor völlig unbekannt sein. Wie sonst würde sie, wenn sie einen von ihnen erwählte, den anblicken, der es nicht war? Veti konnte sich das nicht vorstellen, konnte sich diese Grausamkeit nicht denken. Deshalb floh sie vor dem einen, solange sie nicht wieder alle drei zusammen waren. Dann atmete sie auf und konnte wieder in die wunderbare Stimmung dieses verrückten Sommers zurückkehren.
Und dennoch musste das, wovor sie sich unablässig fürchtete, wohl kommen. Veti wusste, dass es kommen würde, aber wusste nicht, wie es vorbeigehen würde. Die ganze Zeit, die sie zusammen verbrachten, in der sie eigentlich immer engere Freunde wurden, spürte Veti, dass diese immer intimere Freundschaft in Ausgrenzung umschlagen konnte. Und so schlugen ihr dann Niko und auch Igor vor, miteinander zu gehen.
Veti war nur überrascht, dass es ihr zuerst Niko und nicht Igor vorschlug. Igor war offener, einfallsreicher, kühner. Aber vielleicht durch Zufall hielt Niko als erster ihre Hand länger fest, als die seine ruhig blieb, als er sie eines Abends alleine zum Fenster begleitete. Zuerst dachte Veti, dass er ihre Hand einfach so hielt, ohne jenes unbekannte Gefühl, das zwischen ihnen Dreien unbekannt bleiben musste; aber plötzlich begann sie, auf dem Ballen der Handfläche ein ungewöhnliches Zittern zu spüren, von dem seine Hand erfasst worden war. Sie wollte sich entziehen, aber es war bereits zu spät – Niko hielt sich an ihr fest wie ein Erstickender, der Mitgefühl sucht. Seine Augen brannten, seine Handflächen waren feucht, seine Lippen stammelten irgendwelche unbekannten Worte. Veti konnte es nicht fassen, wollte es nicht fassen. Seine Berührungen empfand sie auf einmal als quälend, seine Worte erschienen ihr auf einmal erniedrigend – für ihn. Sie wusste nicht, wie sie ihn unterbrechen, wie sie ihn abschütteln sollte, damit er nicht weitermachte, damit er sich nicht erniedrigte. Sie wusste nicht, wie sie ihm zu verstehen geben sollte, dass dies undenkbar, gegenstandslos und aussichtslos war. Erst als Niko fast gewaltsam ihr Gesicht ergriff, um sie zu küssen – ach, der erste Kuss! ¬–, erst da kam der arme Niko zu sich. Es schien, dass er schließlich den Ausdruck auf ihrem Gesicht gesehen hatte, dem Gesicht, das überhaupt nicht an der Offenbarung seiner Gefühle Anteil hatte, und plötzlich ließ er sie ganz los, riss sich zusammen und hätte beinahe begonnen, zu weinen. Veti brauchte noch einen guten Teil der Nacht, um ihn davon zu überzeugen, dass die Liebe zwischen ihnen unmöglich sei, dass sie Freunde wie vorher bleiben sollten, dass sie sich morgen vor Igor verhalten sollten, als sei nichts vorgefallen, und so weiter.
Kaum hatte sich Niko vom Schlag dieser Zurückweisung erholt, mit der er sich immer noch nicht so weit abgefunden hatte, dass er geglaubt hätte, sie verdient zu haben, kam ihm schon Igor in die Quere. Igor wusste selbstverständlich nichts von dem, was mit ihnen beiden in jener Nacht geschehen war: Veti sagte es aus weiblichem Prinzip nicht, und Niko konnte es aus männlicher Eitelkeit nicht eingestehen. Igor verhielt sich, als sei er der erste; der erste, um das zu enthüllen, was wegen ihrer Unerfahrenheit und mangelnden Lebenskenntnis nur vorübergehend und ungeschickt verborgen war. So wie er an den Zweigen zog, von denen noch die Reste des Regens tropften, so begann Igor, sie an den Händen zu ziehen. Der Park schien nur ein Spiel zu verlangen, als sie vom Schwimmen zurückkehrten: Nach dem unerwarteten Regen drang die noch unerwartetere Sonne zwischen die Bäume; es war so spät, dass man das nicht erwartet hätte. Vertrieben eher von der Düsternis der Wolken als vom Niederströmen des Regens waren sie vom Fluss geflohen, und so hatte sie dieser verspätete, glänzende und matte Sonnenuntergang ertappt. Igor zog an den Zweigen und schüttelte den Rest des Regens über sie, und Veti flüchtete quietschend und hielt beim Rennen den Rock fest. Dann hielt sie Igor mit einer Hand fest, während er mit der anderen Hand den Zweig schüttelte, und Veti sah es kommen: Auch dieses Spiel wird in Tränen enden. Der einzige Unterschied war nur, dass Igor nicht wie Niko begann; Igor wollte mittels eines Spiels, wie zufällig, zu jener Berührung gelangen, die sich plötzlich in beider Augen als nichts weniger als schicksalhaft zeigen würde. Er ließ sie nicht los und führte sie von Zweig zu Zweig, bereits selbst im hervorgerufenen Regen bleibend. Veti ließ zu, dass er sie führte, sich immer weniger wehrend und immer weniger lachend, und sagte sich unablässig: „Hier, unter diesem Zweig, hier wird es beginnen.“ Als sie den ganzen Regen heruntergeschüttelt hatten, drehte Igor sie unter einem Stamm mit eingeritzten Liebesinitialen zu sich, und so größer als sie schaute er ihr von Nahem in die Augen. In seinem Blick gab es das Lachen des Spiels nicht mehr, Veti fühlte seine Pranken, wie sie ihr die Schultern zusammendrückten, in den Wipfel oben stach die letzte Lanze des Sonnenuntergangs. Bevor sie sich ausdenken konnte, wie sie ihn anlachen sollte, damit er verstünde, dass er das nicht tun sollte, drückte Igor seinen Mund auf den ihren. Über seine Schulter in die Baumkrone blickend, dachte Veti, dass der Stamm langsam auf sie falle. Währenddessen suchte Igor hartnäckig mit seiner Zungenspitze die ihre und zeigte, dass er das Spiel mit den Zweigen nur als Vorspiel für dieses betrachtet hatte. „Schau ihn dir an“, wunderte sich Veti, die in ihrem Mund keinen Geschmack wahrnahm und nachdachte, wie sie ihn von sich wegdrücken könnte: Sie zog die Hände zwischen seine und ihre Brust, ballte sie zur Faust und löste sich nicht ohne Anstrengung von ihm.
Igor stand noch mit offenem Mund da, den wirren Blick auf sie geheftet, mit nassem Haar in der Stirn. Veti dachte, dass er noch nie einen dümmeren Gesichtsausdruck gehabt hatte. Da sie sah, dass er sich noch nicht beruhigt hatte, wollte Veti ihm auf scherzhafte Art zu verstehen geben, dass der Kuss ihnen wohl misslungen war, aber es schien, dass auch Igor das bereits eingesehen hatte: Er zuckte nicht mehr, sogar ihre Hand hatte er losgelassen, und jetzt gingen sie weiter aus dem Park, nebeneinander, aber distanziert. Sie sprachen nicht: Igor deshalb, weil er hoffte, dass der erste Kuss alles gesagt habe, und Veti deshalb, weil eben dieser Kuss alles gesagt hatte, was ihm zu sagen sie vorgehabt hatte.
Erst vor dem Hinaustreten aus dem Park, als der misslungene Versuch bereits unzweifelhaft hinter ihnen lag, nahm Veti seine Hand: um ihn zu bitten, dass er sich nicht ärgern solle, dass sie nicht darauf beharren sollten, einander mehr zu sein als sie gewesen waren, dass sie Freunde bleiben und am Abend zusammen mit Niko ins Kino gehen sollten. Getroffen in seiner Männlichkeit, sagte Igor nichts, er wandte ihr nicht einmal den Kopf zu, so dass Veti sich ihm in den Weg stellen und es ihm schlichtweg abpressen musste – wenn schon kein natürliches Lächeln, so doch wenigstens schweigende Zustimmung.
Dennoch lernte Veti aus diesem misslungenen Kuss Igors etwas, was sie bis dahin nicht gewusst hatte: Auch wenn er scheinbar widerstandsfähig war, war Igor in Wirklichkeit verletzlich, so wie Niko, wenn auch nicht auf dessen Art. In gewissem Sinne freute das Veti, da es ihr zeigte, dass Niko und Igor gute Freunde waren, aufrichtige Freunde, ausgezeichnete Freunde, von denen sich zu trennen einmal schwer sein würde. Veti wusste nicht, wann das sein würde, aber jetzt, nachdem sowohl Niko als auch Igor unabhängig voneinander versucht hatten, sie nur für sich zu haben, wusste Veti, dass es auch dazu einmal kommen würde.
Jetzt waren sie wieder zu dritt, beinahe unzertrennlich wie auch früher, mit dem Unterschied, dass sie die Nähe nicht mehr zuließen, die ihnen endgültig gezeigt hatte, dass sie keine Kinder mehr waren, die mit ihr spielen können. Veti stieg nicht mehr auf ihre Fahrräder; sie ließ nicht mehr zu, dass sie sich an den Händen hielten, als wüssten sie nicht, wohin diese Berührung führen konnte, und vermied besonders, mit einem der beiden allein zu bleiben: In diese gefährlichen Strudel hätte wieder einer von ihnen fallen können. Aber trotz dieser vorsichtigen Einschränkungen wusste Veti, dass sowohl Niko als auch Igor noch immer in sie verliebt waren.
Sie konnte dieses Wort nicht aussprechen, aber erlaubte sich, es zu denken. Dabei wusste sie, dass sie sich vielleicht schmeichelte und sich mehr einbildete, als sie sollte, aber dennoch war sie davon überzeugt und mit einer gewissen Furcht, die sich gefährlich an Hoffnung annäherte, hielt sie sich am Gedanken fest, dass damit, dass sie sie einmal abgewiesen hatte, nicht allem ein Ende gesetzt war. Alle drei verhielten sich so, als sei in der Zwischenzeit nichts geschehen, aber alle drei spürten, dass etwas Viertes, Fremdes, wie Misstrauen, schon zwischen sie gedrungen war und sich dort niedergelassen hatte. Etwas bis gestern Fremdes, aber heute auch Ihriges, was sie nicht benennen wollten, aber was bereits zwischen ihnen war, obwohl sich alle gaben, als bemerkten sie es nicht. So wurde ein neues Spiel eröffnet, vor dessen gefährlichen Berührungen alle flohen, obwohl sie sie nicht ausschlossen.
Igor und Niko gingen weiterhin unter Vetis Fenster. Veti erschien weiterhin am Fenster, sobald sie ihren Pfiff hörte. Alle drei gingen weiterhin zusammen an den Strand, ins Kino und auf den Korso.
Alles war in Ordnung; nur dass dieser verrückte Sommer vorüberging, in dessen Abenddämmerungen der Fluss nach aufgeschnittener Wassermelone zu duften begonnen hatte.