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Prosa
Igor Isakovski - Schwimmen im Staub (Auszug)
Aus dem Makedonischen übersetzt von Will Firth
Aus dem Makedonischen übersetzt von Will Firth
163.
Vielleicht sollte man sich merken, dass das Leben aus kleinen Bemühungen besteht, aus einem Schritt nach dem anderen. Im Herausputzen von Details. In der Anerkennung von Misserfolgen, im Genießen des Erreichten. Um das Leben schöner zu machen. Um unsere Nächsten zu befriedigen und an ihrer Freude teilzuhaben. Sonst könnten wir uns leicht in Kriechtiere verwandeln, die ihre Eier zum einsamen Schlüpfen ablaichen, die sich ohne besondere Veranlassung häuten – nicht aus Gewohnheit, sondern aus dem Wunsch heraus, sich anzupassen, mimikryartig.
Wir müssen ehrlich zu uns selbst sein. Freilich nagen in uns Fragen, die unsere alltägliche, gewohnte Ordnung stören. Aber wenn wir sie tief genug in uns eindringen lassen, werden sie etwas herausnagen; einen nach dem anderen werden sie die tief vergrabenen Misserfolge zu Tage fördern, die kleinen und die großen, und danach bleibt uns nur, mit ihnen fertig zu werden, sie genüsslich zu zerkauen, die abgestandenen Gifte auszuspucken und erleichtert durchzuatmen.
164.
Sie küsste mich, bevor ich in den Bus stieg. Wir lachten. Wir sehen uns wieder, sagten wir uns mit den Augen. Ich ließ meine Finger über ihre Wange gleiten. Sie nahm meinen Zeigefinger tief in den Mund und saugte daran. Ich bekam einen Ständer. Fast sofort.
”Wir sehen uns wieder”, sagte ich.
”Mhm.”
Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und betrachtete bis Skopje die weißen und gelben Striche auf der Straße.
165.
Am Busbahnhof warteten mein Cousin Vlado, genannt Türke, und Mars. Keine Ahnung, wie sie meine Ankunftszeit rausbekommen hatten. Ich fragte mich, ob sie überhaupt wussten, wo ich gewesen war. Aber es war schön, abgeholt zu werden.
”Hey”, sagte ich.
”Hey”, kam es zurück.
”Da bin ich.”
”Cool”, sagte Mars.
”Na, Cous’, was machst du denn hier?” fragte Türke.
Scheiße, sie waren doch nicht zum Abholen gekommen.
”Ich komme von einer Reise wieder. Und ihr?”
”Wir warten auf Platten aus Belgrad.”
”Toll. Und ich dachte, ihr würdet mich abholen.”
”Ha, nicht ganz. Aber morgen fahren wir nach Budapest, komm doch mit.”
”Was geht da ab?”
”Bowie-Konzert. Wir brauchen noch jemand, dann können wir eine Gruppenkarte für den Zug kaufen.”
”Ich schwimme nicht gerade im Geld ...”
”Wir finden schon was”, sagte mir Türke, mein Cousin. Cous’ ...
”Musst du nicht zur Armee, Mann?”, fragte Mars.
”Dieser Tage kommt die Einberufung.”
”Haben sie dir den Pass abgenommen?”
”Nein, sie haben nicht mal nach ihm gefragt.”
”Morgen um sieben fahren wir.”
”So früh?”
”Yup.”
Eine grausame Zeit.
166.
Zwei Tage später fuhren wir fröhlich lärmend in Budapest ein. Zu jener Zeit, 1990, waren wir für ungarische Verhältnisse steinreich. Mit etwas Kleingeld in der Tasche zogen wir den ganzen Tag durch die Bars und Museen. Auf dem Váci-Ring frühstückten wir Kaviar. Ich hatte noch nie im Leben Kaviar gegessen. Ich assoziierte ihn mit Champagner und Überfluss. Mit viel Geld. Und da ich bekanntlich kein Geld hatte, war Kaviar die ersten zwanzig Jahre meines Lebens nicht auf der Speisekarte gestanden. Jetzt, auf dem Váci, der bekanntesten Straße in Pest, frühstückten Türke, Mars, ich und noch einige Leute aus Mazedonien Kaviar und protzten. Zumindest kam ich mir so vor, als würde ich protzen. Schöne krosse Brötchen, Butter und alles, was dazugehört. Und ein bisschen Wodka, um den Tag zu beginnen. Eiskalter Stolichnaya, eine Halbliterflasche. Der lief gut runter.
Am frühen Nachmittag liefen wir über die Brücke mit den Löwen und bummelten durch Buda. Kehrten dann nach Pest zurück, über eine andere Brücke. Und dann wieder zurück. Wie Stare im Frühling. Pest gefiel mir auf den ersten Blick. Das passiert mir selten mit Städten, aber es war wirklich schön. Die Herbstsonne wärmte angenehm, von der Donau wehte eine frische Brise, auf den kleinen Plätzen saß und spazierte ein Milliönchen Menschen herum. Die Mädels trugen keine BHs. Überall sah ich hübsche Mädels ohne BH, in Tops und T-Shirts; sie waren entspannt und sich ihrer Schönheit verdammt bewusst. Sie hatten ein Wahnsinnsdekor für ihre Promenade: alte, kaiserliche Bauten. Große Gebäude mit Säulen und verschnörkelten Balkonen. Von Fassadenstuck umgeben. Hohe Fenster. Und andere Gebäude. Die waren auch gut, die anderen.
In Buda entdeckten wir einen kleinen Park gleich an der Donau. Dort gab es einen großen, vollkommen runden Stein. Er glich einem riesigen schwarzblauen Ball. Ich setzte mich auf den Stein und sah in den Fluss. Den ganzen Tag hatte ich ihn überquert, aber erst jetzt nahm ich ihn richtig wahr. Den wunderschönen, mächtigen Strom. Wie er wohl ist, wenn er nicht in Kais gezwängt ist, dachte ich. In der Ferne, stromaufwärts, sah ich eine grüne Insel, auf der Bauwerke zu erkennen waren. Auf jeden Fall schimmerte etwas weißlich. Schließlich starrte ich in den Himmel. Das haute mich um. Mit einem Schlag, buchstäblich. Ich hatte schon oft den offenen Himmel gesehen, aber nach all den Kilometern dieses Sommers und dem Spazieren durch die Straßen und Plätze der Stadt am Nachmittag erschien mir der Himmel weiter und offener als je zuvor. Er war mit flaumigen Wolkenfetzen gesprenkelt und ich sah in seine blaue Tiefe. Ich saß auf dem Stein, rauchte und starrte nach oben. Die Finger meiner rechten Hand juckten. Ich schrieb ein Gedicht. Der Himmel. Mein erster Himmel über Budapest.
167.
Wir stiegen in die Metro und fuhren in Richtung Stadion. Es war später Nachmittag. Jemand sagte, wir müssten früher hin, um Plätze direkt vor der Bühne zu ergattern, also fuhren wir los. Am Eingang waren wir unter den Ersten. Bis zum Anfang des Konzerts hatten wir noch vier Stunden Zeit. Wenn man bedenkt, wie früh wir gekommen waren, hätte man uns nicht in die erste Reihe vor der Bühne, sondern oben auf die Bühne lassen müssen, dachte ich. Jemand schlug vor, für das Konzert Stolichnaya zu kaufen. In der Nähe gab es einen Supermarkt, genau so einen wie in Skopje. Die gleichen Regale, die gleichen mürrischen Verkäuferinnen und Spiegel an der Decke, um Ladendiebstahl zu verhindern. Jemand sagte, wir würden mit Alkohol nicht reingelassen. Also kauften wir auch Saft in einer Plastikflasche, um den Wodka zu tarnen. Fürs Erste nahmen wir zwei Halbliterflaschen. Wir dachten, das würde für den ganzen Abend reichen, aber wie sich herausstellte, war es nur der Anfang. In den dreieinhalb Stunden bis das NEP seine Tore öffnete, gingen wir einige Male in den Supermarkt. Wir verpulverten unsere ganzen Forint. Ich ging noch einmal hin und klaute eine Flasche. Das Gewimmel der Bowie-Fans war so groß, dass es niemand merkte. Mars trug eine Gürteltasche mit all unseren Dokumenten. Er wirkte am nüchternsten von uns allen. Außerdem war er der Älteste, also waren die Pässe bei ihm am sichersten. Wir hüteten sie wie unsere Augäpfel: die roten Pässe mit dem jugoslawischen Wappen, mit denen wir nach Lust und Laune überall hin fahren konnten. Heutzutage werden Aufsätze über sie geschrieben. Aber einem Dokument so viel Aufmerksamkeit zu widmen – das geht mir einfach zu weit. Auch wenn das Dokument ein Symbol ist. Für einen verrotteten, zerfallenen und absolut verfickten ... Staat, der quasi von den Flammen des Wappens der vereinigten Republiken und Provinzen abgefackelt wurde.
168.
Wir strömten hinein wie ein Schwarm, eine wilde Horde. Massenansturm. Als wollten wir die Bühne stürmen. Es sei wichtig, sagte jemand, in der ersten Reihe zu sein. Und selbst wenn ich nicht gewollt hätte, die Masse hätte mich hingetragen. Wie einen winzigen Tropfen Schweiß auf einem heißen Körper, der ins Meer steigt.
Wir reihten uns vor der Bühne ein, wie zahme Schafe, treue Götzendiener des Subkulturkults, wir – die Rocker, Trendies und sonstigen Cliquen, bereit für Show und Spektakel. Um einen Mann zu sehen, der die Musik revolutioniert hatte, bevor die meisten von uns seine Musik überhaupt hören konnten. Weil wir damals noch Wiegenlieder im Ohr hatten.
Aber es war doch nicht so einfach: Zuerst musste die Vorgruppe spielen. Hirnlose Typen aus einem Vorort von Timişoara ... Nichts gegen Timişoara oder irgendeine andere Stadt außer meiner Heimatstadt. Aber die Jungs hatten nichts auf dem Kasten.
169.
Ich war auf dem Konzert so betrunken, dass ich mich nicht mehr an alles erinnern kann. Die Musik kam mir leise vor, das weiß ich noch, und gleich neben mir stand eine Blondine mit schönem Duft und dicken Fingern. In der Pause unterhielten wir uns über die Musik; Türke sagte, wir hätten nur die Monitore und kleinen Verstärker von der Bühne gehört. Und das soll sie gewesen sein, die Sound & Vision-Tournee? Zu sehen gab es auch nichts Besonderes. Begegnungen aus nächster Nähe mit irgendwelchen gefeierten Fatzkes haben mich noch nie vom Hocker gehauen. Über die Blondine habe ich erst einige Jahre später geredet, als mir eine meiner damaligen Freundinnen sagte, sie wäre nach dem Bowie-Konzert in Zagreb nach Skopje zurückgekehrt, auf ein Hochhaus geklettert und hätte sich mit einem Sprung aus dem fünfzehnten Stock das Leben nehmen wollen. Ich musste ihr klarmachen, was für eine langweilige Kuh sie war: Während du dich aus der Ferne nach Bowie gesehnt hast, sagte ich ihr, habe ich auf dem Konzert in Budapest vor seiner Nase ein blondes Luder gepoppt – in der ersten Reihe vor der Bühne! Sie war nicht sicher, ob ich sie verarschte, aber unsere Beziehung hat sich danach spürbar verbessert: Immer wenn sie anfing rumzuspinnen, erzählte ich ihr eine Geschichte, die sie vom Hocker haute.
Die Plastikflasche Stolichnaya mit Saftgeschmack machte die Runde. Wie einen Joint ließen wir sie kreisen. Bowie war ganz in Weiß, lachte mit seinen Keramikzähnen und geschminkten Lippen. Nein, aus der Entfernung konnte ich nicht erkennen, dass sie aus Keramik waren. Aber ich kannte die Geschichte über seine Zähne, hatte Bilder gesehen, auf denen er mit schwarzen Stummeln im Munde grinste, den Überresten seiner ungepflegten Zähne. Ich war echt angepisst. Für dieses Konzert war ich tausend und mehr Kilometer gereist und ich fand es nur schwach. Wahrscheinlich hatte es mich einfach nicht erreicht. Es war nicht durch mich hindurchgegangen, sondern an mir vorbei. Station to station ... Wie ein Zug auf dem Abstellgleis. Schade bloß, dass ich das Abstellgleis war. Echt ab vom Schuss. Verschüttet unter Staub und Schweigen, inmitten der schwitzenden, lärmenden Menge.
170.
Wir gingen wieder hinaus, wie wir hereingekommen waren. Eine Herde wahnsinniger Rinder. Jedenfalls habe ich alle aus den Augen verloren: auch Mars mit den Pässen und Türke, meinen Cousin, und den, der vielleicht die Wodkaflasche hatte, falls noch Wodka übrig war. Meine Beine liefen in Richtung Metrostation. Die Lichter von Budapest schwammen um mich herum. Ich fühlte mich wie ein großer, runder Fisch. Betäubt. Ich betrat die Metrostation, ohne Fahrkarte, ohne einen einzigen Scheißforint. Toll, dachte ich, wenn sie mich jetzt beim Schwarzfahren erwischen, und ich habe weder Pass noch Kohle dabei. Ich wusste nicht, wozu Kohle in einer solchen Situation gut sein sollte, aber zumindest hätte ich was in der Tasche. Ich zündete mir eine Zigarette an, während ich auf den Zug wartete. Das war auch verboten. Toll, dachte ich ... aber niemand sagte was wegen der Zigarette. Die Metrostation war zum Bersten voll mit besoffenen, bekifften Bowie-Fans. Ich war nur einer von ihnen. Ein Tropfen im Meer von Schweiß, Gedränge und Lärm.
Einen Blick auf die Uhr. Unser Zug fuhr in fünfundzwanzig Minuten. Ich war echt aufgeschmissen, verdammt ... Weiter