SlovoKult ::
Drama
Gespräch mit Spinoza
Eine Zirkusvorstellung mit fünf akrobatischen Darbietungen
Aus dem Makedonischen von Elizabeta Lindner
Lektorat Petra Huber
Personen:
Spinoza, ein Mensch, der am Ende der Zirkusvorstellung sterben soll.
Jahwe, Gott, sein Äußeres ist identisch mit dem Spinozas; am besten wäre es, diese beiden Rollen mit Zwillingen zu besetzen.
Ein Akrobat, Seiltänzer, Trapezkünstler, kann durch einen brennenden Reif springen, wagt sich auf das Holzrad des Messerwerfers. Eigentlich ist er Gottes Idee vom Menschen.
Clara Maria van den Enden, später Kerckrinck, ein zwölfjähriges Mädchen, wenn sie Van den Enden heißt, eine reife Frau, wenn sie Kerckrinck heißt und eine Greisin, wenn sie sich in Rom, der ewigen Stadt, befindet.
Johann, ein erfolgloser Philosoph und erfolgreicher Botaniker
Spinozas Mutter, eine Spur in dessen Erinnerung
(Dunkelheit. Nur ein schweres Atmen ist zu vernehmen. Das Kerzenlicht in einer Ecke des Zimmers wird allmählich stärker. Im Zimmer – zwei Fenster, ein Tisch mit einem Stuhl, eine Kerze. An einer Wand – Bücherregale. Neben einem der Fenster – ein Gerät zum Linsenschleifen. Neben dem anderen Fenster ein Teleskop – nicht auf den Himmel, sondern auf das Publikum gerichtet. Auf einem kleinen Tisch – ein Schachbrett. Die Schachfiguren stehen durcheinander. Ein Bett, auf dem Baruch Spinoza liegt. Klopfen an der Tür. Spinoza steht auf – sein Körper bleibt auf dem Bett liegen. Er öffnet die Tür, Jahwe tritt ein. Jahwe und Spinoza sehen identisch aus. Sie unterscheiden sich einzig durch ihren Gesichtsausdruck – so wie sich im altgriechischen Drama die Maske der Tragödie und die Maske der Komödie voneinander unterscheiden: Spinoza ist verzweifelt, Jahwe lächelt.)
Spinoza: Du verspätest dich. (Sieht auf die Uhr.) Um vierundvierzig Jahre und drei Monate.
Jahwe: Ich komme rechtzeitig. (Geht auf Spinozas Körper zu, der auf dem Bett liegt) Rechtzeitig und pünktlich. Du stirbst.
Spinoza: Werde ich sterben? Heute Abend?
Jahwe: Heute Abend.
(Der Geräusch wird lauter – schweres Atmen.)
Hast du Angst?
Spinoza: Die letzte Sache, an die ein freier Mensch denkt, ist der Tod.
Jahwe: Aber in diesem Augenblick bist du tatsächlich bei der letzten Sache angelangt. Beim Tod. (Er legt die Hände auf Spinozas Brust – auf die Brust desjenigen, der auf dem Bett liegt.) Du atmest schwer. Berühre. Höre. Fühle. (Spinoza berührt seine Brust – eigentlich die Brust des Körpers, der auf dem Bett liegt.)
Spinoza: Es ist allzu viel Glasstaub in meiner Brust.
Jahwe: Und noch mehr Gram.
Spinoza: Der Gram ist ein Zustand des Duldens, während die Seele in eine kleinere Vollkommenheit übergeht.
Jahwe: Das, was du sagst, ist nur eine Definition. Den Gram kann man nicht durch eine Definition erläutern, mein Lieber. Aber genau so seid ihr Philosophen. Wenn ich euch definieren sollte, würde ich euch Verstandesakrobaten nennen. Manche von euch sind jedoch akrobatische Clowns. Mit der Erfolglosigkeit ihrer Akrobatik bringen sie einen zum Lachen: Sie versuchen zum Beispiel mit Äpfeln zu jonglieren und haben dabei vor, einen Apfel mit dem Mund zu fangen und ihn aufzuessen, der Apfel aber schlägt gegen ihre Stirn. Andere Philosophen wiederum verstehen zu begeistern: Sie können auf dem Seil tanzen, durch einen brennenden Reif springen, beherrschen die Trapezkunst, sind mutig genug, sich auf ein Holzrad zu wagen, um mit Messern beworfen zu werden. Und weißt du, was am schlimmsten ist? Dass der Akrobat am Ende immer stirbt. Immer bei der Aufführung eines dieser akrobatischen Kunststücke. Genau bei dem, von dem er glaubte, es sei das Zentrum seines Systems.
Spinoza: Welche akrobatische Darbietung wird mich heute Abend töten?
Jahwe: Du wirst im Laufe der fünf akrobatischen Darbietungen sterben, Spinoza. Die erste akrobatische Darbietung: Seiltanz, oder besser gesagt – die Erklärung des Menschen als Idee Gottes. Die zweite akrobatische Darbietung: Trapezkunst. Die dritte akrobatische Darbietung: ein Sprung durch einen brennenden Reif. Die vierte akrobatische Darbietung: Messerwerfen. Die fünfte akrobatische Darbietung... Warum alles im Voraus erklären? Ich nenne dir nur das Endziel: Ich werde dir eine Möglichkeit geben, Spinoza. Du bekommst die Möglichkeit zu sterben, aber nicht bei der Aufführung der akrobatischen Kunststücke. Indem du sie aufführst, wirst du sie verändern.
Spinoza: Ich verstehe nicht.
(Jahwe geht zum Tisch, auf dem das Schachbrett steht. Die Figuren stehen durcheinander.)
Jahwe: (Die Figuren ansehend) Spielst du Schach mit dir selbst?
Spinoza: Jeden Abend.
Jahwe: Und wer gewinnt?
Spinoza: Immer der andere.
Jahwe: Dieses Spiel wirst du nicht zum Ende spielen. Heute Abend musst du ein anderes Spiel beginnen. (Er bewegt eine Figur.) Schachmatt. (Geht zu Spinoza zurück.). Ich würde aber gerne auf die Akrobatik zurückkommen. Mir ist es lieber, das Leben als eine Zirkusvorstellung zu betrachten, als als Schachspiel.
Spinoza: Weil du nie gelebt hast.
Jahwe: Genau deswegen, mein lieber Spinoza. Eigentlich behaupte ich gar nicht, dass ich jemals gelebt habe. Ich sagte nicht, dass ich das Leben lieber als Zirkusvorstellung als als Schachspiel leben würde. Ich sagte, mir ist es lieber, das Leben als Zirkusvorstellung als als Schachspiel zu betrachten.
Vergiss nicht, ich bin Gott, derjenige der alles sieht. (Ironisches Lächeln). Obwohl du eine andere Vorstellung von mir hattest. Wie war das noch einmal...(Ironischer Gesichtsausdruck und Gestik, als ob er versuchen würde, sich an etwas Vergessenes zu erinnern.) Ach, kannst du bitte meine Erinnerung an die sechste Definition aus der „Ethik“ auffrischen...
Spinoza: Unter Gott verstehe ich ein absolutes endloses Wesen, beziehungsweise eine Substanz, die aus unzählig vielen Attributen besteht, wobei jedes von ihnen die ewige und endlose Wesenheit ausdrückt.
Jahwe: Mein lieber Spinoza, du kennst mich gar nicht. Also, hier bin ich, begrenzt und, glaub mir, nicht ewiger als du es bist. Vielleicht werde ich heute Nacht sterben, gemeinsam mit dir. (Er bringt die Schachfiguren durcheinander.) Aber lassen wir meine Eigenschaften und kommen wir auf meine Funktionen zurück. (Er stellt sich hinter das Teleskop. Sieht auf das Publikum.) Wir sagten, dass ich beobachte. (Er richtet das Teleskop auf Spinoza.) Aber ich verändere auch. Oder zumindest ermögliche ich, dass manches verändert werden kann. Lass es uns versuchen, hier und jetzt (wann und wo sonst, Spinoza, wenn du heute Abend stirbst?), lass uns also versuchen, dein Leben zu verändern. Lass uns versuchen, einzelne Abschnitte deines Lebens hier darzustellen und sie ein wenig zu verändern. (Wendet sich vom Teleskop ab.)
Spinoza: (Beleidigt) Zu verändern? Das ist das Zimmer eines Philosophen und keine Theaterbühne, wo wir einfach so meine Vergangenheit nachspielen.
Jahwe: Aber wer hat denn eigentlich das Theater erwähnt, mein Lieber? Das ist der Zirkus. Eine Zirkusvorstellung mit fünf akrobatischen Darbietungen. (Lacht.) Lass uns ernst bleiben (hört auf zu lachen), das ist vor allem eine neue Möglichkeit für dich. Eine Möglichkeit neu anzufangen. Ich, Gott persönlich, gebe dir die Möglichkeit, dein Leben erneut durchzuspielen. Aber sei vorsichtig, so wie der Seiltänzer. Denn du solltest den richtigen Augenblick auswählen, ab dem du dein Leben verändern wirst. Sobald du diesen Augenblick gewählt hast, sobald du diesen Augenblick verändert hast, wonach alles in deinem Leben anders verlaufen wird, werde ich gehen und dich verlassen. Die Zeit wird mit diesem Augenblick beginnen – du wirst dein Leben wieder leben, vom Anfang an, verändert. Anders. Verstehst du?
Spinoza: Ich kann dich nicht verstehen. Alles, was in der Zeit gewesen ist, ist vorbei. Es gibt kein Zurück.
Jahwe: Sieh. (Klatscht in die Hände. Dunkelheit. Nur das Fenster ist beleuchtet – hindurch sieht man einen Akrobaten, der auf einem Seil geht. Er ist völlig identitätslos – man kann sein Gesicht nicht sehen – über seinen Kopf hat er ein Stück Stoff mit zwei Öffnungen für die Augen gezogen.) Die erste akrobatische Darbietung: Seiltanz.
Spinoza: Willst du mir das Seiltanzen beibringen?
Jahwe: Du kannst bereits Seiltanzen, Spinoza. Derjenige, der auf dem Seil geht, das bist du. Davon, wie du die Abschnitte deines Lebens verändern wirst, hängt auch die erfolgreiche Durchführung deiner akrobatischen Darbietungen ab. Er ist du.
Spinoza: Wenn ich heute Abend sterben soll, dann geh und lass mich in Würde sterben, ohne mit mir zu scherzen.
Jahwe: Glaubst du nicht, dass er du ist? (Dreht sich zum Akrobaten.) Wie heißt du?
Der Akrobat: Baruch Spinoza.
Jahwe: Eltern?
Der Akrobat: Hana Debora de Spinoza und Michael Spinoza.
Jahwe: Kurze Beschreibung deines Lebens.
Der Akrobat: 1632 in Amsterdam geboren, jüdische Eltern, die vor der Inquisition aus Portugal flüchten mussten. Meine Mutter starb, als ich sechs Jahre alt war. Meine Mutter starb, als ich sechs Jahre alt war. (Schwankt auf dem Seil.)
Spinoza: (Unterbricht ihn.) Es reicht!
Jahwe: (Zu Spinoza) Glaubst du jetzt, dass du es bist?
Spinoza: Wenn jemand einige Angaben über mich kennt, heißt das noch lange nicht, dass er ich ist.
Jahwe: Sieh mal, da deine Zeit zu sterben naht, lass es uns nicht in die Länge ziehen – ich bin Jahwe, ich bin Gott, ich bin dasjenige, was du ewige und endlose Substanz genannt hast. Dir zufolge, aber auch mir zufolge bin ich derjenige, der alles weiß. Also, ich weiß, dass er du ist.
Spinoza: Er ist ein Akrobat.
Jahwe: Erlaube mir, dich zu paraphrasieren: Der Mensch ist eine Idee Gottes. Er (zeigt auf den Akrobaten) ist die Idee von dir in mir.
Spinoza: Das ist unmöglich. Ich habe mir die Idee von den menschlichen Wesen in dir nicht so vorgestellt. Ich habe mir diese Idee ohne Gestalt vorgestellt...
Jahwe: (unterbricht ihn) Es ist nicht wichtig, wie du es dir vorgestellt hast. Wichtig ist, wie es tatsächlich ist. Vielleicht ist es nicht so, aber ich will nur versuchen, dir die Vorstellung der Idee vom Menschen in mir zu zeigen.
Spinoza: Und für jeden Menschen hast du ein solches Akrobatchen?
Jahwe: Ja.
Spinoza: Das ist unmöglich. Das ist einfach unmöglich.
(Der Akrobat versucht das Gleichgewicht auf dem Seil zu wahren.)
Jahwe: Ändere deine Meinung!
Spinoza: Das ist unmöglich, unmöglich, unmöglich!
(Der Akrobat fällt vom Seil.)
Jahwe: Siehst du, was du getan hast? Du hättest deine Meinung ändern sollen.
Spinoza: Habe ich ihn getötet? (Pause) Habe ich mich getötet?
Jahwe: Du hast nur eine Möglichkeit verpasst. Ich sagte dir bereits, das ist eine Zirkusvorstellung mit fünf akrobatischen Darbietungen. Es bleiben dir noch vier weitere übrig.
Spinoza: Und wie hieß diese?
Jahwe: Seiltanz. (Lacht.) Oder: der Mensch und die Idee Gottes vom Menschen. (Der Akrobat steht auf.) Jetzt folgt die zweite akrobatische Darbietung: Trapezkunst – ein Salto von einem Trapez zum anderen. (Der Akrobat umklammert das Trapez mit den Beinen – hängt mit dem Kopf nach unten. Das Trapez wird nach oben gezogen, genauso das andere, leere Trapez, etwa eineinhalb Meter vom Akrobaten entfernt.) Oder: über die Ewigkeit und die Endlosigkeit der Substanz, der Attribute und der Essenz sowie über die Vergänglichkeit und Beschränktheit der Modi. (Er dreht sich zum Akrobaten.) Wo sind wir stehen geblieben?
Der Akrobat: (Schwingt am Trapez mit dem Kopf nach unten). Meine Mutter starb, als ich sechs Jahre alt war. Danach war ich auf der Schu...
Jahwe: Überspringe einige Jahre.
Der Akrobat: Mein Vater hatte kein Geld für meine Schulausbildung, und obwohl er wollte, dass ich Rabbi werde, wurde ich Verkäufer.
Jahwe: Weitere Jahre überspringen.
Der Akrobat: Sie haben mich aus der jüdischen Gemeinde verbannt.
Stimmen aus dem Hintergrund: Die Herren des Mahamads wussten schon längst von den üblen Gedanken und Taten des Baruch Spinoza und versuchten ihn auf verschiedene Weisen und mit verschiedenen Versprechungen von seinem Irrweg abzubringen. Sie konnten ihn nicht dazu bringen, den Irrweg zu verlassen, sondern ganz im Gegenteil, tagtäglich erhielten sie schwerwiegende Nachrichten über die Gotteslästerung und Ketzerei, die er betreibt und lehrt, sowie über seine monströsen Taten, wofür sie zahlreiche würdige Zeugen hatten, denen man vertrauen konnte, und deswegen waren sie von der Wahrhaftigkeit dieser Angelegenheit überzeugt; und nachdem all das in der Anwesenheit der ehrwürdigen Chachamim überprüft worden war, entschlossen sie sich, den genannten Spinoza zu verbannen und ihn aus dem Volke Israels auszuschließen. Auf Ratschluss der Engel und Befehl der Heiligen verbannen, vertreiben, verfluchen und verurteilen wir Baruch Spinoza, mit der Erlaubnis Gottes, gesegnet sei Er, und mit der Erlaubnis der heiligen Gemeinde, in Übereinstimmung mit den heiligen Schriften, in denen die sechshundertunddreizehn Gebote aufgeschrieben sind. Verdammt sei er am Tag und verdammt sei er in der Nacht, verdammt sei er, wenn er sich schlafen legt und verdammt sei er, wenn er aufwacht. Verdammt sei er, wenn er irgendwohin geht und verdammt sei er, wenn er zurückkehrt. Gott wird ihn nicht begnadigen, denn Gottes Zorn und Gottes Neid werden um ihn herum schwelen, jeder Fluch aus diesem Buch wird ihn befallen, Gott wird seinen Namen unter dem Himmel auslöschen und Gott wird ihn gemeinsam mit dem Bösen von den Stämmen Israels abtrennen. Wir befehlen Ihnen: Keiner darf mit ihm verkehren, weder schriftlich noch mündlich, keiner darf mit ihm unter einem Dach leben, keiner darf ihm näher als auf vier Ellen kommen und keiner darf seine Schriften lesen.
Der Akrobat: Und dann musste ich mein Zuhause verlassen. Keiner, der Jude war, durfte mit mir unter einem Dach leben. Nicht einmal mein Bruder. Ich bin zu Frans van den Enden gezogen.
Jahwe: (Dreht sich zu Spinoza). Und Frans hatte eine Tochter.
Spinoza: Sie war erst zwölf Jahre alt.
Jahwe: Na und? Nach den alten jüdischen Gesetzen durften die Mädchen mit zwölfeinhalb verheiratet werden. (Pause. Sie sehen den Akrobaten auf dem Trapez an.) Lass uns uns einen Tag im Haus von Frans van den Enden vorstellen. Du trittst in Clara Marias Zimmer ein.
(Eine Ecke des Zimmers, die bisher dunkel war, wird beleuchtet. Dort, auf einem Bett sitzt Clara Maria und liest. Blickt Spinoza an.)
Clara Maria: Bento, wissen denn diese Worte (sieht auf das Buch): “So kann ich alle Vorgänger meines jetzigen Untergangs im Verlust, im Tod und in der Trauer um jemanden oder etwas, das ich einst geliebt habe, finden“ (schlägt das Buch zu) wissen sie denn, dass ich sie in diesem Augenblick lese?
Spinoza: Sie alleine wissen es wahrscheinlich nicht, aber dasjenige, das sie in sich beinhaltet, weiß das.
Clara Maria: Gott?
Spinoza: Du kannst es Gott nennen. Oder „schaffende Natur“. Oder Substanz. Die Substanz ist dasjenige, das in sich ist, und dasjenige, das sich selbst durch sich selbst begreift.
Clara Maria: Die Worte, die ich lese, die Töne, die ich spiele, sind also nicht in sich selbst und können sich nicht durch sich selbst begreifen?
Spinoza: Die Töne und die Worte an sich sind Modifizierungen der endlosen Substanz; da also diese Substanz sowohl die Worte als auch die Töne durchdringt, oder genauer gesagt, einen Teil von ihnen durchdringt, jenen Teil, der die eigentliche Idee von ihnen ist und somit auch ein Teil der Substanz, begreift sie ihre Wesenheit.
Clara Maria: Was ist der Unterschied zwischen der Essenz und der Substanz?
Spinoza: Die Essenz der Substanz äußert sich einzig durch die Attribute und in den Attributen selbst.
Clara Maria: Und was sind die Attribute?
Spinoza: Die Substanz an sich besteht aus Attributen, durch die sie ihre Essenz äußert, und weiterhin entstehen aus den Attributen die ewigen und unendlichen Modi. Von den unendlich vielen Attributen können wir nur zwei erkennen: das Denken und die Ausdehnung. Diese zwei Attribute stehen in permanenter Verbundenheit miteinander. Aus jedem Attribut gehen unzählig viele Modi hervor, die die Modifikationen und die Zustände der Substanz darstellen; die Modi sind die einzelnen Dinge, durch die sich die Substanz manifestiert, und gehen aus den Attributen hervor, wie die Attribute aus der Substanz hervorgehen. Alles, was direkt aus der Substanz und aus den Attributen hervorgeht, ist erneut unendlich und ewig – so auch die unendlichen und ewigen Modi: Aus dem Attribut der Ausdehnung geht der Modus der Bewegung und des Stillstandes hervor, aus dem Attribut des Denkens geht der Modus des unendlichen Verstands hervor und aus dem Zusammentreffen beider Modi geht die Gestalt des gesamten Universums hervor. Anhand des Attributes der Ausdehnung betrachtet, sind die Modi Körper und anhand des Attributes des Denkens betrachtet, sind die Modi Ideen. Der unendliche und ewige Modus der Bewegung und des Stillstandes ist die Gesamtheit aller Körper, die endliche Modi sind, und er beinhaltet in sich alle ihre Bewegungen und Stillstände. Der unendliche und ewige Modus, der der unendliche Verstand ist, beinhaltet in sich alle einzelnen Ideen. Der unendliche Modus, den man Gestalt des gesamten Universums nennt, beinhaltet in sich die Ganzheit der Welt und ist die Gesamtheit aller Verhaltensgesetze zwischen den vergänglichen und begrenzten Modi. Wir sind nun also bei den vergänglichen und begrenzten Modi angelangt. Im Unterschied zu den ewigen und unendlichen Modi, derer es nur drei gibt, gibt es unzählig viele vergängliche und begrenzte Modi – so viele wie es auf der Welt vergängliche und begrenzte Körper gibt. Weder bei der einen noch bei der anderen Art von Modi stimmt die Essenz mit der Existenz überein. So sieht der Fall von der Vollkommenheit in die Unvollkommenheit aus: Aus der Substanz entstehen die Attribute, aus den Attributen entstehen die ewigen und unendlichen Modi, aus den ewigen und unendlichen Modi entstehen die unzähligen vergänglichen und endlichen Modi - die Körper. Die Vollkommenheit ist die schaffende Natur, das sind die Substanz und die Attribute, und die Unvollkommenheit ist die geschaffene Natur – die Modi. Die schaffende Natur kann einzig durch sich selbst begriffen werden, und die geschaffene Natur kann einzig durch die Substanz begriffen werden.